Fast die Hälfte aller Fehldiagnosen sind auf Missverständnisse oder Nachlässigkeiten beim Gespräch zwischen Arzt und Patient zurückzuführen. Viele Beispiele zeigen: Zuhören zahlt sich aus - Verständnis für den Patienten erst recht.
„Für viele Patienten wäre es das Beste, es würde sonst nichts getan, außer verständig mit ihnen zu reden.“ Diesen Angriff auf die Technik-Medizin trug der leitende Arzt für innere Medizin des Klinikums München Ost, Hermann Füeßl bei einer Fachtagung in München vor wenigen Wochen vor. Wenn man den Berichten unzufriedener Patienten glauben darf, interpretieren manche niedergelassenen Ärzte den Begriff „Sprechstunde“ auf eine sehr eigene Weise. „Wenn ich ihm von meinen Beschwerden erzähle, schaut er mich gar nicht an, sondern vielmehr auf seinen Computer“ heißt es da.
Heilbringender Dialog
„Zuhören zahlt sich aus“, lautete das vielversprechende Motto des Symposiums, das die Stiftung Zuhören zusammen mit Landeszentrale für Gesundheit in Bayern und der Siemens Betriebskrankenkasse organisiert hatte. Selbst in der Politik ist inzwischen angekommen, dass ein gutes Gespräch zwischen Arzt und Patient nicht nur zu weniger Unzufriedenheit nach der Behandlung, sondern auch zu besserer Lebensqualität etwa bei Tumorpatienten führt, wie Melanie Huml vom Bayrischen Staatsministerium für Umwelt und Gesundheit in ihrem Beitrag anhand von Studien aufzeigte.
Rund 7,6 Minuten darf sich ein Hausarzt für seinen Patienten Zeit nehmen, um noch wirtschaftlich arbeiten zu können. 7,6 Minuten, das sind entsprechend einer Studie aus dem Jahr 2002 deutlich weniger als durchschnittliche Sprechzeiten in Spanien, den Niederlanden oder auch England. Schweizer Ärzte nehmen sich rund doppelt so viel Zeit für ihre Patienten. 90 Prozent der Patienten wollen lieber ein intensiveres Gespräch anstatt Diagnosen via MRT oder anderer maschinengesteuerter, aber lukrativer Untersuchungen. Zuwenig Zeit, so Füeßl weiter, das führt zu „Doktorshopping“ und immer mehr Befunden, aber viel zu wenig Erklärungen für den Patienten. Zudem komme mindestens ein Drittel der Patienten mit somatoformen Beschwerden zu ihrem Hausarzt. Bei ihnen könne man mit großem Blutbild und Radiologie weniger ausrichten als mit Zuhören und aufmerksamen Nachfragen.
Schlampige Anamnese - falsche Therapie
„Richtiges Fragen“ - das kommt in den Curricula bei der Arztaus- und Weiterbildung kaum vor. Denn entsprechender Unterricht und nachfolgende Prüfungen erfordern viel Personal und sind damit teuer, wie Eckhart Hahn Dekan der medizinischen Fakultät an der Universität Witten/Herdecke bemerkte. Wenn die richtigen Fragen nicht gestellt werden, hat das massive Folgen. Das zeigt eine Veröffentlichung aus Boston. Von 438 Patienten mit einem frühen Prostatakarzinom verordneten die Ärzte bei 132 von ihnen eine kontraindizierte Therapie, die zu verringerter Lebensqualität führte. Die ernsten Folgen dieser falschen Entscheidungen wären mit einer gründlichen Untersuchung zu vermeiden gewesen.
Im Medizinstudium nimmt die Empathie mit dem Patienten bereits im dritten Semester massiv ab, der Zynismus dagegen zu, so Jana Jünger von der Medizinischen Klinik Heidelberg. Dass es auch anders geht, zeigte sie anhand der Ausbildung ihrer Fakultät. Mit dem Heidelberger Curriculum Medicinale - Heicumed - spielt dort die Praxis eine weitaus größere Rolle als früher. Laienschauspieler stellen dort schwierige Gesprächssituationen für den Arzt in jeweils rund 50 Übungs- und Prüfungseinheiten nach. Die Bilanz nach acht Jahren Praxis, so demonstrierte Jünger, ist ein deutlicher Kompetenzzuwachs, gegenüber dem bisher üblichen „Bedsite-Teaching“. Da auch die Kosten im überschaubaren Rahmen seien, konnte sie inzwischen sogar anfängliche Kritiker des Programms überzeugen.
Von Situationen, in denen das Gespräch für den Arzt ganz besonders schwierig wird, berichtete Sigurd Duschek von der kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB). Wo Kunstfehler oder die Verkettung unglücklicher Umstände zu einer missglückten Heilung führen, begegnet dem Patienten danach oft eine Wand des Schweigens auf der ärztlichen Seite. Dabei, so Duschek weiter, ist der Patient oft nicht an einer Strafe für den Schuldigen interessiert, sondern vielmehr an Aufklärung. Auf die Frage „Was ist passiert und warum“, solle ein ehrliches Gespräch mit dem Arzt folgen, ohne dass dieser gleich ein Schuldanerkenntnis geben müsse. Auch die geänderten Versicherungsbedingungen unterstützten dabei den Dialog, der eine gerichtliche Auseinandersetzung oft verhindern kann.
Mehr Geld fürs Zuhören?
„Zuhören zahlt sich aus“ - auch auf der wirtschaftlichen Seite? Viele Ärzte im Publikum waren gespannt, was Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigung dazu zu sagen hatten. Gertrud Demmler von der Siemens Betriebskrankenkasse machte klar, dass es wohl allein mit einem größeren honorierten Zeitbudget allein nicht getan ist. Das Selbstverständnis des Arztes müsse wieder weg von der technisch-verordnungsorientierten Medizin und wieder hin zur sprechenden Heilkunst. Schließlich sollte es auch möglich sein, den Arzt mit beratenden Helfern zum Thema Ernährung, Pflege oder Prävention zu unterstützen. Zusammen mit Sonja Froschauer von der KVB stellte sie einen neuen Ansatz vor, um das aufmerksame Gespräch zwischen Arzt und Patient zu fördern: Die „eAnamnese“. Ein strukturierter, technisch unterstützter Fragebogen hilft dem Arzt bei den „richtigen“ Fragen. Die Daten auf dem Rechner vermeiden dabei teure Doppelerhebungen und sorgen für die Möglichkeit, den neuen Ansatz auch wissenschaftlich auszuwerten. Mit der Möglichkeit von Selektivverträgen hätten die Kassen nun auch ein Werkzeug, geeignete Partner für dieses neue Konzept einzubinden.
Tim Peters von der Ruhr-Universität Bochum hat in seiner Magisterarbeit aus dem Jahr 2007 rund 100 Gespräche zwischen Düsseldorfer Hausärzten und Testpatienten mit beidseitigem Einverständnis aufgezeichnet und ausgewertet. Noch immer, so zeigten die Ergebnisse, ist das Gespräch auf gleicher Augenhöhe eher die Ausnahme. Gerade bei „schwierigen“ Patienten greifen viel Ärzte eher auf unverständliches Fachlatein und Werbeformeln für vermeintlich bewährte Medikamente zurück, anstatt auf die Ängste ihres Gegenübers einzugehen. Andreas Hofmann, Lehrbeauftragter an der TU München, zitierte einen Kollegen: „Mir wäre es lieber, ich wäre Zahnarzt geworden, dann könnte der Patient gar nicht reden“.
„Zuhören zahlt sich aus“. Dabei geht es nicht immer nur um ein „Minuten-Honorar“, sondern um sichere Diagnosen und Therapieentscheidungen auch ohne hohen Technikeinsatz - und vor allem um einen Punkt, über den sich alle Teilnehmer einig waren: Die Zufriedenheit des Patienten.