85 Prozent der US-Apotheker empfehlen den Kunden Kopfschmerztabletten wenn diese zuvor keinen Arzt konsultierten. Doch eine Studie belegt: Nur die Hälfte der Pharmazeuten erkennt, wenn der Kunde Migräne hat und andere Empfehlungen benötigt.
Die Ergebnisse der Studie im Fachblatt American Journal of Pharmaceutical Education sind ernüchternd. Nur acht Prozent der befragten Pharmazeuten verabreichten ihren Kunden Präparate, deren Wirkung durch evidenzbasierte Studien gesichert sind. 59 Prozent der Apotheker gaben sogar an, mit evidenzbasierten Daten nichts anfangen zu können – für Richard Wenzel und seine Kollegen vom Chicago College of Pharmacy ein Desaster. Denn die, die sich der wissenschaftlichen Erhebung stellten, waren keine Novizen – sondern verfügten mitunter über den so genannten PharmD, einen Titel also, der hierzulande der Promotion gleichzusetzen wäre.
Volkswirtschaftliche Katastrophe
Insgesamt 90 Ausbildungszentren in den Vereinigten Staaten nahmen an der Studie teil, in der es primär um eine Frage ging: Verschreiben Ärzte in punkto Migräne überhaupt die richtigen Präparate und, falls nicht, können Apotheker die Wissenslücke kompensieren? Der Bedarf hierfür jedenfalls scheint groß. Selbst wenn Ärzte eine Migräne als solche erkennen, die Mehrzahl der Amerikaner geht bei Kopfschmerzen lieber gleich in seine Apotheke. Und tatsächlich: Pharmazeuten avancieren somit zum wichtigsten Stützpunkt im Kampf gegen eine Volkskrankheit, die immensen wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Rund 2.500 US-Dollar pro Jahr kostet jeder Migränepatient das amerikanische Gesundheitswesen mehr, als wenn ihm Aura oder stechende Schmerzen im Kopf nicht zusetzten. Ohnehin ist die volkswirtschaftliche Bedeutung groß: Allein in den USA fallen wöchentlich 3,5 Stunden an Gesamtproduktivität aus – was sich nach 365 Tagen als volkswirtschaftlicher Schaden in Höhe von über 11 Milliarden Dollar bemerkbar macht.
Das alles ließe sich erheblich minimieren, meinen die Autoren in der aktuellen Studie – wenn wenigstens Apotheker, nachdem viele Ärzte an der Migräne vorbei behandeln, zur richtigen Pille griffen. Wie sehr Apotheker die Fehler ihrer ärztlichen Kollegen im Gesundheitswesen ausbügeln müssen, zeigt ein Blick auf die eingehenden Rezepte. Lediglich 18 Prozent der Mediziner verschreiben, so die Auswertung von Wenzel und seinem Team, die bei Migräne gängigen Triptane. Ebenso viele Ärzte setzen lieber auf barbiturathaltige Medizin, und liegen damit, aus Sicht Wenzels evidenzbasiert betrachtet, vollkommen neben der Spur. Denn „ein Mangel an Daten“ lasse den Nutzen dieser Wirkstoffklasse in Frage stellen, schrieben die Autoren unter Berufung auf die Richtlinien des US Headache Consortium.
Deutschland: Leitlinie zur Migräne-Behandlung
Für Apotheker hierzulande ist die Lage kaum weniger pikant. Auch hier gehen viele Patienten mit Kopfschmerzen nicht gleich zum Arzt, und auch hier gibt es mitunter die falsche Therapie. Doch die Leitlinie zur Migränetherapie der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft ist ein wichtiges Tool zum Medikamentencheck. Sie gibt nämlich konkrete Hinweise zum Einsatz der Triptane und der anderen Wirkstoffkategorien. Auch einige Analgetika zählen danach mittlerweile zur Liste der Medikamente zur Migräneprophylaxe. So gehören laut DMKG in der Akuttherapie der Migräne Triptane wie Almotriptan, Eletriptan, Frovatriptan, Naratriptan, Rizatriptan, Sumatriptan und Zolmitriptan zu den Substanzen mit der besten Wirksamkeit. Zudem sollten Triptane zu Beginn einer Migräneattacke eingenommen werden, „solange der Kopfschmerz noch leicht oder mittelschwer ist“.
Gerade Apotheker können demnach Aufklärungsarbeit während des Verkaufs leisten, denn die DMKG-Empfehlung gilt nur für Patienten, die Migräne- von Spannungskopfschmerzen unterscheiden können. Der Grund: Triptane wirken ausschließlich bei Migränekopfschmerz. Auch sollten die Kunden erfahren, dass die frühe Einnahme nur dann gilt, wenn „die Zahl der Kopfschmerztage unter zehn pro Monat liegt“, wie die DMKG betont. Dass Apotheker als Berater punkten können, zeigt ein weiteres Detail. Geht nämlich den Migräneschmerzen eine Aura voraus, müssten die Patienten mit der Einnahme des Triptans warten, bis die Aura abgeklungen ist. Zudem gilt auch die schlichte Regel: „Ist die erste Gabe eines Triptans bei einer Attacke nicht wirksam, ist eine zweite Gabe sinnlos“. Selbst wenn die Kunden mit der Verschreibung des Arztes wedeln, lohnt für den Apotheker die Frage nach weiteren Erkrankungen. Denn Angina Pectoris, Herzinfarkt oder Schlaganfall in der Vorgeschichte sind ein ultimatives Ausschlusskriterium für Triptane.
Es geht freilich auch ohne Rezept. Acetylsalicylsäure, Ibuprofen, Diclofenac-K und Paracetamol wirken als Analgetika bei leichten Attacken. „Die Kombination von Acetylsalicylsäure, Paracetamol und Koffein ist wirksamer als die Kombination ohne Koffein und wirksamer als die Einzelsubstanzen“, empfehlen die Kopfschmerzexperten. Dass Kopfschmerzen selbst den Verkauf von Antiemetika ankurbeln verwundert auf den ersten Blick, ist aber medizinisch belegt: Viele Menschen leiden während der Migräneattacke unter gastrointestinalen Symptomen. Antiemetika regen die Magenperistaltik an, was wiederum Resorption und Wirkung der eingesetzten Analgetika und Triptane optimiert. Derartige Zusammenhänge beherrschen in den USA nur die wenigsten der befragten Studienteilnehmer. Doch immerhin, vom Gefühl her liegen die Pharmazeuten richtig, wie Wenzel resümiert: „80 Prozent gaben an, dass Kopfschmerzpatienten wichtig für das Geschäft sind“.