Nervenaufreibendes Klingeln, Piepen, Zischen oder Rauschen im Ohr – viele Tinnituspatienten leiden Tag und Nacht. Neue Ansätze versprechen zumindest eine Verbesserung der anhaltenden Lärmbelästigung.
Die Deutsche Tinnitus-Liga e.V. ging bereits im Jahr 1999 von insgesamt drei Millionen Betroffenen in Deutschland aus, die mehr oder weniger andauernd Ohrgeräusche wahrnehmen. Die Quote sei ähnlich hoch wie die bei Diabetes. Jeder Vierte habe bereits Erfahrungen mit Tinnitus. 1,5 Millionen Menschen litten bereits damals mittelstark bis stark unter der immer wiederkehrenden oder gar andauernden Lärmbelästigung und brauchten deshalb therapeutische Hilfe.
Die Liste der möglichen Ursachen ist lang, und in der Diagnostik konzentrieren sich Ärzte auf den Nachweis verdächtiger körperlicher und psychischer Auslöser: Stress, Innenohrschwerhörigkeit, Hörstürze, Tumoren, Ohrenerkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, hoher Blutdruck, Durchblutungsstörungen, Verletzungen der Halswirbelsäule, Gebissfehlstellungen, verschiedene Medikamente und Muskelverspannungen lassen sich aber leider nicht immer dingfest machen oder entsprechende Therapien helfen nicht.
Töne vom Hirn erzeugt
Und die Töne, die sonst keiner hört, sind bis vor kurzem auch kaum nachweisbar gewesen. Nun aber verdichten sich Hinweise dafür, dass die Ursache im Gehirn selbst zu suchen ist – ähnlich wie bei Phantomschmerzen. Michael Seidman der Abteilung für Otolaryngology des Henry-Ford-Krankenhauses in Detroit konnte zeigen, dass und wie Tinnitus die Gehirnströme verändert. Ergebnisse seiner Studie veröffentlichte er 2009 anlässlich des Jahrestreffens der Amerikanischen Akademie für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde in San Diego. Mit der Magnetoenzephalograhie (MEG) wies er schwache Magnetfelder nach, die als Folge der elektrischen Aktivität des Gehirns entstehen. Mit der Methode lassen sich aktive Hirnareale genauer lokalisieren als mit anderen bildgebenden Verfahren. Die Hirnströme von 15 Tinnitus-Patienten und zehn Gesunden ergaben bei jenen mit beidseitigem Ohrgeräusch Hirnaktivitäten in den Hörzentren beider Gehirnhälften. Bei einseitigen Ohrgeräuschen war eine Hirnaktivität nur in der gegenüberliegenden Hirnhälfte nachweisbar.
Solche Erkenntnisse sind therapeutisch nutzbar. Denn die gesteigerte Aktivität in verantwortlichen Hirnarealen lässt sich reduzieren. Ein neueres Therapieverfahren für Patienten mit chronischem Tinnitus ist die transkranielle Magnetstimulation (TMS). Mit Niedrigfrequenzen lässt sich bei wiederholter Anwendung die exzessive neuronale Erregung, zuvor mittels Positronen-Emissionstomograhie (PET) identifiziert, hemmen.
Akustische Reize gegen das Chaos im Hirn
Auf einem ähnlichen Prinzip beruht der in Europa gerade erst zugelassene Tinnitus-Neurostimulator T30CR zur Behandlung des chronischen, subjektiven, tonalen Tinnitus. Die Therapie geht auf Forschungsarbeiten von Prof. Peter Tass zurück, Direktor des Instituts für Neurowissenschaften und Medizin im Forschungszentrum Jülich. Gezielte akustische Reize sollen dabei den Tinnitus bekämpfen. Auch dieser Therapie liegt die Annahme zugrunde, dass Fehlsteuerungen im Gehirn den nervenden Ton verursachen, und Nervenzellen übermäßig und im Gleichtakt Signale abfeuern. Der Neurostimulator unterbricht den Gleichtakt mit akustischen Reizen und stört die überaktiven, hochsynchronen Nervenzellverbände. Resultat ist ein „gesundes Chaos“, wie es in der Pressemitteilung des Forschungszentrums heißt.
Die Basis der Therapie ist die von Tass entwickelte Coordinated-Reset-Technologie (CR). CR steht dabei für einen mathematisch-physikalischen Stimulationsalgorithmus, der schwache, individuell angepasste Impulse zu verschiedenen Zeiten an die synchronen Nervenzellverbände schickt und sie so „aus dem Takt“ bringt. Folge: Nervennetzwerke bauen sich wieder um, und der Tinnitus nimmt ab. Zwischenergebnisse einer Studie an 45 Patienten zeigen, dass die Lautstärke der Ohrgeräusche und die subjektiv empfundene Belästigung mit der Behandlung kontinuierlich abnahmen. Nach zwölf Wochen waren Reduktionen um bis zu 40 Prozent zu verzeichnen, unter Placebo dagegen nur um maximal neun Prozent. Auch die Frequenz des Tinnitustones veränderte sich: Sie wurde tiefer und angenehmer. Erste HNO-Ärzte nehmen bereits an Schulungen teil. Anbietende Fachärzte sind auf den Internetseiten des Forschungszentrum Jülich aufgeführt.
Musik: Ton gegen Ton
Münsteraner Forscher um Christo Pantev setzen eine spezielle Musiktherapie ein, um fehlgeleitete Nervenzellen zu reorganisieren. Individuelle Ohrlärmprofile nutzt Pantev, um Musiklieblingsstücke von Patienten so umzuarbeiten, dass Tinnitusfrequenzen herausgefiltert werden und somit im Stück nicht mehr vorkommen. Patienten, die ein Jahr lang täglich diese Musik hörten, nahmen ihren Tinnitus in geringerer Lautstärke wahr. Gleichzeitig reduzierte sich die Aktivität in Gebieten des auditorischen Kortex.
Hörschaden plus Tinnitus: Cochlea-Implantat und Stammzellen
Lärm als hörschädigender Einfluss ist an der Entstehung von Tinnitus beteiligt. Kein Wunder also, dass Tinnitus häufig auch in Kombination mit Hörschäden bis zur Ertaubung vorkommt. Eine mögliche Behandlung von quälendem Tinnitus bei einseitiger Ertaubung ist ein Cochlea-Implantat, so Katrien Vermeire aus Antwerpen in einem Vortrag anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Audiologie (DGA) 2008. Dabei sei ein Cochlea-Implantat bei Erwachsenen mit einseitiger Ertaubung jedoch abzulehnen, wenn es allein der Hörverbesserung dienen solle, denn die Verbesserung sei gering. 22 einseitig ertaubte Tinnitus-Patienten waren bis zu diesem Zeitpunkt mit einem Cochlea-Implantat versorgt worden, und alle wiesen nach einem Jahr eine signifikante Verbesserung des Tinnitus auf. Einen Kongressbericht veröffentlichte die Deutsche Cochlear Implant Gesellschaft e.V.
Bei Ertaubung und Tinnitus könnte auch die Stammzellentherapie zukunftsträchtig sein. Den Wissenschaftlern gelang unlängst die Isolierung menschlicher, auditorischer Stammzellen aus der fetalen Cochlea. Die Stammzellen waren zur Differenzierung in sensorische Haarzellen und Neuronen fähig. Die Stammzelltherapie im Innenohr von Mäusen war bereits erfolgreich. Inwieweit diese Therapie auch den Tinnitus verbessern könnte, ist fraglich.