Für die einen überschreitet Gunther von Hagens die Grenzen des gängigen Bilds von Ethik und Religion mutig, für die anderen mutwillig. DocCheck sprach mit dem Mann mit Hut über seinen Werdegang und die kontroversen Diskussionen über ihn und seine Arbeit.
Sehr geehrter Prof. von Hagens, in den Medien kann man von ihrem turbulenten Werdegang lesen. Wie kamen Sie auf die Idee, sich mit Anatomie auseinander zu setzen?
Ich landete zufällig in der Anatomie. Als ehemaliger DDR-Bürger und politischer Häftling der provinziellen Enge entflohen, hatte ich das Bedürfnis, international tätig zu sein. Deshalb ließ ich mich nach meinem Studium in Notfallmedizin ausbilden und besuchte den Tropenkurs für Ärzte an der Universität Heidelberg. Um flexibel zu sein, nahm ich mir vor, das amerikanische Staatsexamen zu machen. Dazu brauchte ich Zeit, die ich in der Abteilung für Anästhesie und Notfallmedizin nicht hatte. Die Anatomie ohne Nachtdienste und Überstunden erlaubte mir diese Zeit. Die nutzte ich, um den Tropenkurs zu absolvieren. Dann bereitete ich mich intensiv auf das amerikanische Staatsexamen vor, welches ich auch bestand – ohne, wie ich heute weiß, es je wieder zu brauchen. Dann machte ich bei niedergelassenen Ärzten Urlaubsvertretung. Doch genau diese Zeit überzeugte mich, dass ich an der Universität glücklicher sein könnte, weil ich dort meinen grüblerischen Geist nutzen könne. Auch die Patienten waren mit mir höchst zufrieden, nur ich nicht mit den Patienten. Als ich in der Praxisvertretung tätig war, realisierte ich, dass Routine den praktisch ärztlichen Beruf auszeichnete. Nach dem zwanzigsten Grippekranken wusste ich wieder auswendig, was zu tun war. Beim Literaturstudium stellte ich fest, dass sich bisher kein Anatom intensiv mit der Weiterentwicklung von Konservierungstechniken befasst hatte.
Wie ist Ihre Entdeckung zur Plastination anatomischer Präparate zustande gekommen? Jahrelanges Forschen oder Zufall?
Den Anstoß verdanke ich meinem Durchhaltevermögen und dem festen Glauben daran, dass es gelingen müsse, Präparate dauerhaft haltbar zu machen. Ich war erst ein paar Tage als wissenschaftlicher Assistent von Prof. Kriz eingestellt, als mir der Chefpräparator die Anatomische Sammlung zeigte. Stolz präsentierte er in Kunststoff eingebettete Gehirnscheiben. Doch ich war alles andere als beeindruckt. Denn das waren Gehirnscheiben, an denen man graue Gehirnrinde und weißes Gehirnmark nur mit Mühe voneinander unterscheiden konnte. So sagte ich ihm, dass es doch viel intelligenter wäre, wenn er den Kunststoff in die Scheiben hinein bugsieren würde. Als Antwort erntete ich völliges Unverständnis. Schließlich wären ja Reaktionskunststoffe nicht mit Gewebewasser mischbar. Das Gespräch ging mir nicht aus dem Kopf. Da traf es sich gut, dass mein Chef mir die Aufgabe gestellt hatte, ein Modell der menschlichen Niere zu bauen. Dazu musste ich Nieren entwässern, mit Paraffin durchtränken und in 10 Mikrometer dünne Scheiben schneiden. Die Arbeit war mir zu eintönig. Stattdessen kam ich an der Wursttheke auf die Idee, die Niere in 1 mm dicke Scheiben zu schneiden. Zusammen mit Professor Kriz kaufte ich ein gebrauchtes Schneide-Gerät. Beschwingt schnitt ich die Niere in Scheiben, färbte diese und ging daran, die Scheiben zwischen Glasscheiben einzubetten. Doch dies war schwieriger als gedacht. Einbettungsmedien enthielten Lösungsmittel. Wenn dieses verdunstet war, gab es Schrumpfungslöcher im Kunststoff. Ich versuchte es daraufhin mit flüssigem Plexiglas. Die Nierenscheibe, die ich mit Aceton entwässert hatte, legte ich auf den Kunststoff und wartete, bis der Nierenschnitt, bei gleichzeitiger Verdunstung des Acetons, einsank. Dann brauchte ich nur noch einmal Kunststoff drüber zu gießen. Eines Abends kam ich auf die Idee, anstelle von Luftblasen Aceton aus dem Präparat abzuziehen. Ich legte ein Nierenstück in die Plexiglaslösung und applizierte Vakuum. Unter dem verminderten Luftdruck verließen Acetonblasen das Präparat, das gleichzeitig Kunststoff einsaugte. Nach einer Stunde war das Stück durchtränkt. Eine Woche später imprägnierte ich in härtungsfähiger Silikonkautschuklösung. Das erste Plastinat, eine menschliche Zunge war entstanden. Wenig später meldete ich die Technik zum Patent an.
Die Plastination ist zweifelsfrei eine herausragende Leistung. Trotzdem sehen Sie sich unentwegt auch kritischen Stimmen ausgesetzt. Ärgert Sie das, oder halten Sie es wie Rockefeller: „Egal, was Ihr über mich schreibt – Hauptsache, Ihr buchstabiert meinen Namen richtig!?
Das sehe ich ganz gelassen. Man darf sich selber nicht zu wichtig nehmen. Wer sich auf ein solch ethisch kontroverses Gebiet begibt, der muss diese Kritik abkönnen, sonst sollte man es lassen. Es steht den Menschen absolut zu, zu kritisieren, was sie wollen. Genauso, wie auch ich gewisse Dinge kritisiere. Und es hilft ja auch, meine Arbeit bekannt zu machen. Die Menschen sind heutzutage mehr um ihren Körper, als um ihre Seele bemüht. Die Kirchen sind leer, die Fitness-Studios voll. Bei uns sehen die Menschen, was mit ihrem Körper passiert, wenn sie sterben. Das verleiht dem unsausweichlichen körperlichen Tod eine gewisse, weil die Verwesung aufschiebende, Tröstlichkeit.
Gibt es ein tatsächliches Interesse der Bevölkerung, sich mit anatomischen Strukturen zu beschäftigen? Oder lockt nicht vielmehr die altbekannte Mischung aus Faszination und Grauen die Massen in die „Körperwelten“?
Wäre es die Mischung aus Faszination und Grauen, wären wir nie zur erfolgreichsten Wanderausstellung mit bisher 29 Millionen Besuchern avanciert. In „Körperwelten“ wird uns unsere körperliche Sterblichkeit tröstlich vermittelt, wenn gezeigt wird, dass die Verwesung über Jahre hinausgeschoben werden kann. Insofern erleben die Besucher in der Ausstellung die Wellnesswelle über den Tod hinaus, in einer Gesellschaft in der der körperliche Tod ins Unwirkliche verklärt wird. Die Grabinschrift: “Hier ruht in Frieden” statt “Hier verfault in Erde”, braucht schon ein gehöriges Stück Wirklichkeitsverleugnung. Doch die „Körperwelten“ verstecken nichts Verfaultes. Sie zeigen uns jung und aktiv. So beginnen sogar die Körperspender zum Besucher zu sprechen: „Ich war, was Du bist: Lebendig. Du wirst sein, was ich bin: Tot. Und Du kannst sein was ich war: Lebendiger Körperspender.” So und nicht anders öffnen wir die Herzen der Menschen zu sich selbst. Das ist in einer körperorientierten Gesellschaft nicht populär, in der die Menschen nicht mehr die Frage beschäftigt, ob ihre Seele in den Himmel oder in die Hölle kommt, sondern was der Leib während des Sterbens und der Verwesung durchmachen wird. Diese Fragen werden in den „Körperwelten“ mehr als irgendwo sonst in das Bewusstsein der Massen gehoben, weil in den Körperwelten die Wertigkeit des Leibes als Körperschatz ästhetisch-didaktisch hervorgehoben und unsere Sterblichkeit durch die Demonstration der direkten Todesursachen authentisch vermittelt wird.
Wäre es dann nicht angebrachter, die präparierten Körper in normalen, „lehrreichen“ Positionen zu zeigen? Welche Absicht verfolgen Sie mit der teilweise skurrilen Positionierung Ihrer Exponate?
Die Posen der Plastinate wählen wir bewusst. Besucher machten uns nach unserer ersten Ausstellung darauf aufmerksam, dass sie das Gefühl hätten, der Tod starre sie an, wenn sie die damals in anatomischer Nullposition gezeigten Präparate betrachteten. Wir entschieden uns dann für lebensechte Posen, um eine Brücke zwischen Tod und Leben zu schlagen. Vor allem Laien fällt es nun leichter, sich der Thematik des eigenen Körpers zu nähern. Ich möchte den Plastinaten den Schrecken des Todes nehmen, sie dem Lebenden bewusst in Haltung und Ambiente annähern. Die schwangere Frau präsentiert sich in eleganter, nicht jedoch lasziver Pose. Sie wendet den Blick vom Besucher ab. Der nicht aufliegende Leib vermittelt die Spannung, die auch in der Tragik dieses doppelten Todes liegt. Emotionale Erlebnisse gehen mit einer erhöhten Aufmerksamkeitsspanne des Betrachters einher und fördern das Begreifen neuer Zusammenhänge. Schon in der Renaissance wurden Sektionen in öffentlichen anatomischen Theatern zelebriert. Erlebnis und Anatomie gehörten somit bereits dort zusammen. Ich habe die Disziplin wiederbelebt und ihr einen neuen Namen gegeben: „Emotionale Eventanatomie“. Dabei ziehe ich eine klare ethische Grenze bei dem, was ich zeige. Menschliches wird bei mir stets menschlich dargestellt. Niemals würde ich beispielsweise aus einer Harnblase eine Vase werden lassen, in die ich Gänseblümchen stelle.
Angeblich waren Ihre Vorlesungen geradezu pompös und gespickt mit szenischen Darstellungen. Was ließ Sie zu diesen ungewöhnlichen Lehrmethoden greifen?
Ich war schon immer der Auffassung, dass emotional Erlebtes besser in den Köpfen der Betrachter und Zuhörer verharrt, als trocken Vorgetragenes. Ich wollte die Studenten aktiv an den Vorlesungen teilhaben lassen, sie aus der morgendlichen Lethargie herausholen und in die aufregende Welt der Anatomie entführen. Teilweise jedenfalls scheint mir dies gelungen, denn ich werde noch heute von ehemaligen Studenten, mittlerweile Ärzten, auf meine Vorlesungen angesprochen, die unterhaltsam und einprägsam waren. Ein guter Anatomielehrer muss auch ein guter Unterhaltungskünstler sein, Anatomie als emotionales Erlebnis vermitteln können. Vor diesem Hintergrund sehe ich mich auch heute noch als „Edutainer“ der Anatomie, als emotionaler „Eventanatom“.
Worin sehen Sie Ihren persönlichen Antrieb, Aufklärungsarbeit zu leisten? Und funktioniert diese Arbeit wirklich nur durch die Ausstellung verstorbener Menschen?
Ja. Weil nur echte Körper die Aufmerksamkeitsspannung erzeugen, die notwendig ist, um die Gesundheit fördernde Verhaltensänderungen zu erreichen. Ich habe mein Herz damals nicht in Heidelberg, sondern in Japan verloren, wo ich während der ersten öffentlichen Ausstellung 1995 erfahren durfte, dass gerade Laien ein besonderes Interesse am menschlichen Körper haben. Vor „Körperwelten“ wurden Krankheit und Tod fast ausschließlich in den Krankenhäusern unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehalten. Während der Ausstellung in Japan sprach mich eine junge Japanerin an. Anfangs schluchze sie nur und brach schließlich unter Tränen zusammen. Nachdem wir die Dame beruhigen konnten, stellte sich mit Hilfe eines Dolmetschers heraus, was los war. Die junge Frau hatte mehrfach versucht, sich das Leben zu nehmen. Erst durch die Ausstellung sei ihr bewusst geworden, wie einzigartig ihr Körper sei und sie versprach, nie wieder Gewalt gegen sich selbst zu richten. Das war der Moment, indem ich beschloss, meine Ausstellung einem großen Laienpublikum zugänglich zu machen. Inzwischen meine ich, dass ich durch „Körperwelten“ besser im Verhüten von Krankheiten bin, als im Heilen von Krankheiten. So ist es nicht ungewöhnlich, dass Menschen mich beim Einkaufen ansprechen, um mir zu sagen, dass es meine Ausstellung war, die sie dazu bewogen hat, einen gesünderen Lebensstil zu pflegen.
Glauben Sie wirklich, dass Sie Ihre Besucher durch Ihre Arbeit zu einem bewussteren oder gar gesünderen Leben erziehen können?
Das Ziel der Ausstellung ist zweifach. Zum einen soll durch den Vergleich von gesunden und kranken Organen, wie Nichtraucherlunge und Raucherlunge, das Gesundheitsbewusstsein der Besucher gefördert werden. Zum anderen vermitteln die Ganzkörperplastinate den fragilen und komplexen Aufbau des menschlichen Körpers. Der Besucher spiegelt sich im Plastinat, erkennt dort seine eigene Körperlichkeit. Das Plastinat als Erkenntnispartner. Die Ausstellung demokratisiert durch die Vermittlung funktioneller Anatomie Gesundheitsvorsorge. Sie ermöglicht es dem Laien, durch bessere Kenntnis seines eigenen Körpers, ein gesünderes Leben zu führen. Unabhängige Umfragen zeigen, dass nach einem halben Jahr 9% der Besucher weniger oder nicht mehr rauchen und 50% mehr Sport treiben. Außerdem erhöht der Besuch der Ausstellung die Bereitschaft zur Organspende um ca. 25%.
Tausende Spender haben sich bei Ihnen registrieren lassen, um nach ihrem Tod selbst Teil der „Körperwelten“ zu werden. Ein Zeichen für einen stärker werdenden Drang nach der Überwindung des Alterns oder gar Unsterblichkeit?
Das ist richtig. Die Körperspende steht für die Bewältigung der körperlichen Seite des Todes. Denn dieser besteht nicht nur aus dem unsichtbaren Verlust der Seele, sondern genauso aus dem Verlust der Körperlichkeit. Dabei erhält gerade die Körperlichkeit im neuen Jahrtausend eine immer wichtigere Rolle: Piercings, Tatoos, Body Building und die ästhetische Chirurgie sind auf dem Vormarsch. Da wird es Zeit zur Etablierung der ästhetischen Anatomie, die ja von der Definition her die Grundlage der ästhetischen Chirurgie sein sollte. Doch deren verzögernde Entwicklung, was an der späten Erfindung der Plastination lag, wird nachgeholt. Ich schreibe bereits an einem Standardwerk der ästhetischen Anatomie.
Glauben Sie selbst daran, dass die Endlichkeit des Menschen in gewisser Weise durch die Plastination überwunden werden könnte?
Die körperliche Endlichkeit auf jeden Fall. Dafür überlasse ich der Kirche auch weiterhin gern ihren euphemistischen Seelenkult. Diesen in den Vordergrund zu stellen, und sich der noblen Pioniertaten der christlichen Anatomie nicht mehr erinnern zu wollen, ist geschichtslos. Es gab eine Zeit, in der in Kirchen öffentlich seziert wurde. Und es wird eine Zeit geben, in der die Kirchenfürsten sich wieder ihrer geschichtlichen Pioniertaten rühmen werden und die Gläubigen auffordern in die „Körperwelten“ zu gehen. Denn wir sollten nicht vergessen, dass die Geburtsstunde der modernen Anatomie in der Renaissance mit der Präparation des Körpers eingeleitet wurde. Und damals war die Bedeutung der anatomischen Sektion in dieser und keiner anderen Reihenfolge zu sehen:
1. Die philosophische Bedeutung der Sektion. 2. Die religiöse Bedeutung der Sektion. 3. Die anatomische Bedeutung der Sektion.
Erst als die Mediziner die Wichtigkeit der Anatomie für die Weiterentwicklung der Medizin erkannten, verloren die Philosophen, wie die Künstler, die Entdecker der Anatomie in der Renaissance, ihren Zugang zur Leiche. Seither ist die „Anatomieleiche“ ein Objekt, das dem Studenten der Medizin zugeordnet wird.Wir bedanken uns bei Ihnen für das Gespräch!
Das Interview wurde redaktionell gekürzt. Das Originalinterview finden Sie hier.
KÖRPERWELTEN – Eine Herzenssache in Köln verlängert bis 21. März 2010. KÖRPERWELTEN – Eine Herzenssache in Bremen 5.2. - 25.5.2010 Weitere Informationen und Tickets unter www.koerperwelten.de