Gerne wird „Fehlverhalten im Gesundheitswesen“ auf Ärzte, Apotheker und Industrie reduziert. Die Beschuldigten kontern mit den „Schwarzen Schafen“. Doch noch ein Argument bringen Ärzte vor: Patienten setzten sie unter Druck, erpressten sie sogar.
Unstreitig ist, dass Fehlverhalten auch bei Patienten vorkommt. Transparency International Deutschland etwa listet eine Reihe möglicher Tatbestände auf - vom Verkauf der Chipkarte über Schein-Rechnungen, Schwindel bei der Familienversicherung, Nötigung von Ärzten und Apothekern bis hin zum Mehrfach-Verkauf von teuren Rezepten. Wie bedenkenlos manche Zeitgenossen vorgehen, kann problemlos in Internetforen beobachtet werden: Da bittet etwa eine „Braut25“ um einen Rat, wie sie eine AU-Bescheinigung fälschen könne. Denn: „Ich kann nicht schon wieder zum Arzt gehen, weil ich schon drei Wochen krank war.“
Grenzenlose Jagd nach Attesten?
Keine Grenzen gar soll die Jagd nach dem gelben Schein kennen, berichtete 2009 „Die Zeit“. Dass es immer wieder Patienten gibt, die offensichtlich keine Hemmungen haben, von ihrem Arzt falsche Gesundheitsatteste zu verlangen, etwa zur Vorlage bei Versicherungen, bestätigt im Gespräch mit DocCheck Hausarzt Dr. Dieter Conrad. Seit Abschaffung des Quartalskrankenscheines sei es für Patienten eben leichter geworden, eine solche Leistung zu bekommen, erklärt der erste Vorsitzende des Hessischen Hausärzteverbandes. Dass sie von ihrem Arzt eine Straftat verlangten, sei, so Conrad, einigen dieser Patienten nicht bewusst oder gar gleichgültig. Fast Alltag sei, dass Patienten recht klare Vorstellungen davon hätten, was sie wollen oder was ihnen angeblich zustehe, wobei es meist weniger um Arzneimittel als um Krankengymnastik, Massagen oder Fango-Packungen gehe. Beinahe resignierend klagt in einem Ärzteforum eine Hausärztin: „Den ganzen Nachmittag habe ich nur „ich will-", „Sie müssen-" und „ich brauche-" und „das steht mir zu" -Patienten gehabt.“
Mündigkeit versus Anspruchsdenken
Ob man dies Patienten vorwerfen sollte, sei dahingestellt. Denn schließlich wird von ihnen unisono mehr Selbstverantwortung gefordert und ständig der „mündige Patient“ beschworen. Die Grenzziehung zwischen Mündigkeit, überzogenem Anspruchsdenken und erpresserischem Verhalten kann da im Einzelfall sehr schwierig sein. Die Zeiten eines väterlich-hierarchischen Arzt-Patienten-Verhältnisses sind eben vorbei und werde wohl kaum ernsthaft herbeigesehnt.
Nur wenige Fakten
Aufgrund der schwierigen Grenzziehung gibt es zwar viele Erfahrungsberichte zum nicht unbedingt strafbaren, aber gleichwohl rücksichtslosen und unsolidarischen Verhalten von Patienten, aber kaum valide Daten. Ein paar wenige Zahlen nannte laut „dpa“ letztes Jahr Professor Bernd-Dieter Meier vom Kriminalwissenschaftlichen Institut der Universität Hannover auf einer Tagung in Gießen. Bei den Fällen, die er prüfen konnte, richteten sich die Ermittlungen zu knapp 15 Prozent gegen Ärzte. Zweitgrößte Gruppe sei aber mit fast 13 Prozent die der Patienten gewesen, die sich Leistungen erschlichen hätten. Überwiegend jedoch wird die Frage nach soliden Zahlen, von Kassen wie von KVen, mit der Aussage beantwortet: „Uns liegen keine validen Daten vor“.
Auch Staatsanwalt Alexander Badle, Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung von Vermögensstraftaten und Korruption im Gesundheitswesen der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main kann eine Anfrage nur „dahingehend beantworten, dass keine 'validen Daten' zum Fehlverhalten von Patienten im Sinne einer 'Leistungserpressung oder -erschleichung' vorliegen“.
Meist eine „Schicksalsgemeinschaft“
In der Regel handele es sich ja um eine „Win-Win-Situation" oder eine Art „Schicksalsgemeinschaft“. Badle siedelt Verantwortung und Schuld überwiegend bei den Ärzten an, denn: „In sämtlichen hier bislang bearbeiteten Ermittlungsverfahren, in denen Patienten in die Tatbegehung involviert gewesen sind, handelte es sich jeweils um Konstellationen, in denen Arzt und Patient, ggf. unter Einbindung eines Leistungserbringers / Apothekers, kollusiv zum Nachteil des Kostenträgers zusammengewirkt haben...Es darf auch bezweifelt werden, dass ein einzelner Patient gegenüber dem Arzt eine solche „wirtschaftliche Bedeutung" entfaltet, dass ein Arzt, der nicht bereits tatgeneigt ist, dazu verleitet werden könnte, eine strafbare Handlung zu begehen. Das kollusive Zusammenwirken zwischen Arzt und Patient basiert nach meinen Erfahrungswerten auf dem Fundament des gemeinsamen finanziellen Vorteils für beide Akteure.“
Ähnlich sieht dies wohl auch Professor Andreas Stevens. Der Neurologe und Psychiater der Universität Tübingen habe, so im September 2009 die Wochenzeitung „Die Zeit“, bei einer Fachtagung auf den Schaden durch unbegründete AU-Atteste hingewiesen. Die KBV verteidigt ihre Mitglieder selbstverständlich gegen solche Vorwürfe: Ärzte gingen mit Krankschreibungen insgesamt sehr verantwortlich um. Dieses Thema setze sich eher aus Vermutungen, weniger aus Fakten zusammen. Womit die KBV nicht falsch liegt. Denn Fakten sind auch hier - beim Thema unberechtigte Krankschreibungen - Mangelware. Und selbst bei einem Thema, wo es viele Daten gibt, muss schon genau hingeschaut werden. Die Rede ist vom Abrechnungsbetrug oder vom Verdacht auf Abrechnungsbetrug - eine notwendige, kaum feinsinnige, aber oft missachtete Unterscheidung.
Verdacht auf Betrug ist nicht Betrug
Seitdem die KVen verpflichtet sind, „Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten" einzurichten (2004), hat sich laut einer Meldung vom Januar dieses Jahres zum Beispiel die Stelle der KV Rheinland-Pfalz mit 146 Sachverhalten befasst. Nur in 15 Fällen meinten die Prüfer, dass eine Straftat vorliegen könnte. In allen 15 Fällen ging es um möglichen Abrechnungsbetrug. Sie wurden an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Der größte Teil wurde nach KV-Angaben gegen Auflagen eingestellt.
Nach einer weiteren aktuellen Meldung sind zwischen 1. November 2007 und 31. Oktober 2009 bei der KV Berlin 79 Hinweise auf Fehlverhalten eingegangen. Ärzte wurden in 53 Fällen verdächtigt. Ganz oben auf der Liste: falsches Abrechnungsverhalten oder der Verdacht auf Abrechnungsbetrug. 16 Fälle habe die KV Berlin an das Landeskriminalamt weitergeben müssen. Aber: „Oft handelt es sich in solchen Fällen lediglich um fehlerhafte Abrechnung und nicht um Betrug", wird Peter Pfeiffer, der Beauftragte der KV Berlin für das Fehlverhalten im Gesundheitswesen zitiert. Manchmal gerät ein Arzt schon ins Visier der Ermittler, weil er, so erzählt Conrad, aus Versehen eine Zahl falsch eingetragen habe.
Außerdem: Jeder zweite ambulante Pflegedienst in Hessen rechne nach einer Überprüfung der dortigen AOK falsch ab, berichtete vor vier Jahren die Fachjournalistin Alexandra Lehnen. Und Abrechnungsbetrug in der Pflege sei keineswegs auf Hessen beschränkt. In fast allen Bundesländern habe die AOK falsche Abrechnungen registriert.
Der Fall Dr. med. B.
Abrechnungsbetrug sei eben nicht auf Ärzte beschränkt und werde von den KVen keineswegs als Kavaliersdelikt angesehen, betont Dieter Conrad. Das eigentliche Problem sei ohnehin die für alle Beteiligten große Intransparenz des Systems, so der hessische Verbandschef. Bei Betrugsvorwürfen und einseitigen Schuldzuweisungen ist eh Vorsicht geboten. 17 Jahre lang zog sich der Prozess gegen den Mainzer Arzt Dr.Werner Braunbeck wegen angeblichen Abrechnungsbetrugs hin. Der Fall wurde in den Medien hochgespielt. Gegen die damit einhergehende Vorverurteilung konnte sich Braunbeck nicht wehren. Im Februar 2007 stimmte er der Einstellung des Verfahrens gegen eine Geldauflage von 32.500 Euro zu. Eine weitere Runde hätte er gesundheitlich und finanziell nicht verkraftet. Mehr als eine Million Euro kosteten ihn die insuffizienten Vorwürfe der Staatsanwaltschaft. Vier Monate nach Einstellung des Verfahrens starb der Arzt. Der Journalist Ingo Deris hat diesen Fall in einem Buch aufgearbeitet.