Eine neue Generation von Armprothesen erlaubt nicht nur fließende Bewegungen mit mehreren Gelenken gleichzeitig. Allein Gedankenkraft steuert die Bewegungen des neuen Hi-Tec-Arms, der zudem noch Fingerspitzengefühl besitzt.
So hatte sich der damals siebzehnjährige Christian Kandlbauer das Berühmtwerden nicht vorgestellt. Eine Mutprobe: Er klettert auf einen Hochspannungsmast und kommt der 20.000 Volt-Leitung zu nahe. Der Stromüberschlag verbrennt ihm beide Arme und die großen Zehen. Er behält zwar gerade noch sein Leben, verliert jedoch beide Arme, dazu noch die großen Zehen.
Dass der Name des heute zweiundzwanzigjährigen Österreichers nicht nur regional bekannt ist, verdankt er moderner Medizintechnik. Denn er ist der erste Europäer, der mit einer gedankengesteuerten Armprothese lebt. Sie gibt ihm nicht nur eine Fingerfertigkeit zurück, die ihn an seine frühere Hand erinnert, sondern sogar das Gefühl dazu.
Automatische Schaltung statt Kuppeln
Der Proband, den die Ärzte und Techniker der Otto Bock HealthCare GmbH suchten, sollte nicht nur durch die Amputation schwer behindert sein sondern auch jung und willensstark. Das war notwendig, um das anstrengende Entwicklungsprogramm auch mental durchzustehen.
Bisherige Prothesen, wie sie Kandlbauer noch an seinem rechten Arm trägt, beruhen auf einer myeloelektrischen Steuerung. Drei Freiheitsgrade, jeweils getrennt verschaltet. Das bedeutet in der Praxis: Die gleichzeitige Anspannung von verbliebenen Bizeps und Trizeps im Oberarm schaltet auf den Zielbereich von Ellenbogen, Handgelenk oder Fingergelenke. Spannt er seine Muskulatur entweder vorne oder hinten an, kann er eines der drei Gelenke bedienen, niemals jedoch mehrere gleichzeitig.
Prothesen der neuesten Generation funktionieren dagegen fast wie ein natürlicher Arm. Der Prototyp aus dem Labor besitzt sieben Freiheitsgrade. Genau wie vor der Operation kann der Amputierte seinen „neuen Arm“ ganz intuitiv mit seinem Willen steuern. Die entsprechenden Nerven verlaufen jedoch über einen Umweg. Die Schaltstelle zwischen Prothesenelektronik und zentralem Nervensystem liegt nun im oberen Teil der Brustmuskulatur. Die neue Technik erlaubt nicht nur die gleichzeitige Bewegung verschiedener Gelenke, sondern auch ein Gefühl für Temperatur, Greifwiderstand und Vibration. Der gefühlte kräftige Händedruck und die Kälte von Eiswürfeln in den Fingern wird mit Hilfe entsprechender Sensoren Wirklichkeit.
Nervenumleitung in die Brustmuskeln
Dass sich Technik und Gehirn so elegant verbinden, verdankt Christian Kandlbauer einer Zusammenarbeit zwischen Otto Bock und dem Rehabilitation Institute of Chicago (RIC). Vor dort kam die Idee, wie sich das Problem einer Zusammenschaltung von Nerven und Maschinenelektronik lösen lässt. Denn normalerweise vertragen sich Leitungsdraht und Nervenfaser auch aufgrund der latenten Infektionsgefahr nicht besonders gut. Den Schlüssel zur Lösung präsentierte Todd Kuiken vom RIC auf einem Kongress im Jahr 2005 mit der „Targeted Muscle Reinnervation“ (TMR). Ein ausführlicher Bericht dazu erschien letztes Jahr in „JAMA“. Dabei kappt der Chirurg zunächst im Zielbereich der Schaltstelle die Nervenanbindung der dortigen Muskeln. Kandlbauers Brustmuskulatur erlaubte es nun, die Armnerven - N. medianus, N. radialis, N. ulnaris und N. musculocutaneus - dorthin umzuleiten. Nach etwa einem halben Jahr Nervenwachstum entstand ein sensibler Bereich für die Arm- und Handmuskulatur. Die entsprechenden Impulse lassen sich nun von den Brustmuskeln über Elektroden abgreifen und in die Prothesensteuerung leiten.
Selbständig und mobil
Nach langem Training und zahlreichen Anpassungen im Labor funktioniert diese Prothese nun intuitiv. Kandlbauer muss sich nun nicht mehr auf jede einzelne Bewegung konzentrieren, sondern kann wie mit einer normalen Hand greifen und seit einigen Monaten sogar Auto fahren. Den Führerschein in einem umgebauten Wagen bestand er im Herbst 2009. Der gelernte Kfz-Mechaniker aus der Steiermark ist inzwischen zu seinem früheren Arbeitgeber zurückgekehrt und arbeitet dort in der Logistik.
Noch existieren Prothesen mit zahlreichen Gelenken und den Umweltrezeptoren nur als Prototypen. Doch schon in wenigen Jahren soll zahlreichen Amputierten das Gefühl und jene Selbständigkeit zurückgegeben werden, die Christian Kandlbauer schon jetzt genießt. „Nur beim morgendlichen Anlegen des Brustgurts brauch‘ ich noch Hilfe, ansonsten kann ich meine beiden Prothesen selber anlegen.“, sagte er im Interview mit DocCheck. Essen, Waschen oder auch nur der Gang auf das WC. Was früher nicht ohne Hilfe ging, funktioniert jetzt wieder.
Hilfe auch für Gelähmte
Eine Studie der Universität Washington, die im Februar in der Fachzeitschrift „PNAS“ erschien, zeigt, dass sich die Verschaltungstechnik zwischen Gehirn, Computer und Mechanik sich auch in Zukunft rasant weiterentwickeln dürfte. In einer Untersuchung bei Epileptikern leiteten die Wissenschaftler Gehirnsignale direkt aus dem zentralen Nervensystem ab und ließen ihre Probanden allein durch Gedankenkraft Mausbewegungen auf dem Monitor ausführen. Schon nach kurzer Zeit gelang das nahezu genauso gut wie mit entsprechend ausgeführten Handbewegungen. Das Hauptthema in der Januar-Ausgabe des Magazins „National Geographic“ beschäftigte sich mit „Bionik“, der Steuerung von Mechanik durch lebendige Systeme. Der Autor Josh Fischman beschrieb darin auch einen Patienten mit Tetraplegie. Der vollkommen querschnittgelähmte Patient des Chicagoer RIC kann mit der Hilfe der Techniker und Ärzte und dank gezielter Nervenumleitung seine Hände wieder bewegen und alleine essen.
In Deutschland werden jährlich rund zehn- bis fünfzehntausend Arme amputiert. Christian Kandlbauer und etwa 250 andere Patienten, die mit einer gedankengesteuerten Prothese leben, geben diesen Menschen mit durchschnittener Selbständigkeit neue Hoffnung.