Entscheidend ist, wann eine Epilepsie ausbricht. Denn der Zeitpunkt bestimmt die Therapieform maßgeblich. Kinder, die in den ersten drei Lebensmonaten von Epilepsie betroffen sind, benötigen eine andere Medikation als Kinder, die später erkranken.
Säuglinge, bei denen eine bestimmte Epilepsie in den ersten drei Lebensmonaten ausbricht, profitieren von anderen Medikamenten als Kinder, die später erkranken. Diesen Unterschied hat ein internationales Forscherteam unter Federführung deutscher Neuropädiater und Neurologen jetzt für Epilepsien, die durch eine Mutation des Gens SCN2A verursacht werden, aufgedeckt. „Von diesem neuen Wissen profitieren vor allem Neugeborene und Säuglinge mit schweren epileptischen Anfällen: Sie können jetzt gezielter behandelt werden“, kommentiert die Neurogenetikerin Professorin Christine Klein, stellvertretende Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). „Das erhöht die Chance der Kinder, rasch anfallsfrei zu werden, und kann Entwicklungsstörungen verhindern.“ Sowohl die DGN, als auch die Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP) und die Deutsche Gesellschaft für Epileptologie (DGfE) bewerten die Ergebnisse als einen wichtigen Meilenstein in der Behandlung von Epilepsien, die durch eine Mutation des Gens SCN2A ausgelöst werden. Epilepsien betreffen etwa ein Prozent der Bevölkerung, beinahe jede zweite beginnt im Kindesalter. „Kindliche Epilepsien sind – wie viele neurologische Erkrankungen – oft genetisch bedingt. Immer häufiger findet die Forschung wie in diesem Fall in der Genetik auch einen Schlüssel zur Therapie“, sagt Klein, Leiterin des Instituts für Neurogenetik an der Universität zu Lübeck. „Die Genetik eröffnet uns eine neue Ära in der Behandlung von Epilepsie-Patienten, ganz im Sinne einer nach dem Gendefekt individualisierten Behandlung“, kommentiert Dr. Thomas Mayer, Chefarzt im Sächsischen Epilepsiezentrum Radeberg.
Eine seltene, aber wichtige Ursache von Epilepsien bei Kindern sind Mutationen im Natriumkanal-Gen SCN2A. Sie lösen schwer verlaufende und sehr schwierig zu behandelnde Epilepsien aus, die auch mit Entwicklungsstörungen einhergehen. SCN2A-Mutationen sind außerdem für weitere neurologische Erkrankungen und Entwicklungsstörungen verantwortlich, die noch im späteren Lebensalter relevant sind. Neugeborene und Säuglinge mit schweren und häufigen Anfällen benötigen rasch eine wirksame Therapie, damit sich ihr Gehirn gesund entwickeln kann. Doch Patienten profitieren nicht gleichermaßen von Epilepsie-Medikamenten, nicht alle Kinder erreichen Anfallsfreiheit.
Das internationale Forscherteam hat mit der wegweisenden Studie die Therapiemöglichkeiten für Kinder mit SCN2A-Mutationen entscheidend verbessert. „Als bemerkenswerte Konsequenz aus der Untersuchung ergeben sich klare Empfehlungen für die Behandlung dieser schwerkranken Neugeborenen, Säuglinge und Kinder. Sie sind für die betroffenen Patienten und ihre Familien sowie für die behandelnden Kinderärzte und Neurologen äußerst hilfreich“, betont Professor Knut Brockmann, Neuropädiater der Universitäts-Kinderklinik Göttingen. Die systematische Analyse von mehr als 70 Fällen einer SCN2A-Epilepsie zeigt, dass sie bei etwa der Hälfte der betroffenen Kinder in den ersten drei Lebensmonaten beginnt, bei allen anderen später, bis zum Alter von acht Jahren. Kinder mit einem frühen Krankheitsbeginn profitierten deutlich von einer medikamentösen Therapie mit Natriumkanalblockern. Bei den Kindern mit spätem Beginn hatten dieselben Epilepsie-Medikamente jedoch keine oder sogar negative Effekte. Wenn rasch Anfallsfreiheit erzielt werden konnte, verlief die Entwicklung der Kinder zudem insgesamt günstiger.
Das Forscherteam um Neuropädiater Markus Wolff und Neurologen Holger Lerche konnte durch eine funktionelle Charakterisierung der Effekte einzelner Mutationen außerdem aufklären, welcher Mechanismus dem unterschiedlichen Ansprechen auf eine Therapie zugrunde liegt: Es zeigte sich, dass SCN2A-Mutationen entweder eine Überfunktion oder eine Unterfunktion des Natriumkanals bewirken können – ein wesentlicher Unterschied für den Behandlungserfolg. Überfunktionen, die nur bei frühem Krankheitsbeginn zu finden sind, werden durch Natriumkanalblocker deutlich abgemildert. Unterfunktionen, die mit einem späten Krankheitsbeginn einhergehen, werden hingegen verstärkt. „Der Therapieeffekt bei einer SCN2A-Mutation ist also durch den Krankheitsbeginn und die Art der Epilepsie sehr gut vorhersehbar. Damit wird es möglich, Neugeborenen und Säuglingen mit schweren und häufigen Anfällen rasch die richtige Therapie zukommen zu lassen“, erklärt Dr. Markus Wolff, Leitender Oberarzt der Universitätsklinik Tübingen. „Da SCN2A-assoziierte Epilepsien sich häufig bis ins Erwachsenenalter fortsetzen, könnte dies auch für Erwachsene relevant werden. Sie könnten vielleicht schon allein durch das Absetzen der falschen Medikamente profitieren“, ergänzt Kollege Professor Holger Lerche, Direktor der Abteilung Neurologie.
Die Funktionsfähigkeit des Gehirns beruht unter anderem auf dem Zusammenspiel vieler verschiedener Ionenkanäle. Sie verhindern eine überschießende Ausbreitung elektrischer Aktivität durch ein sensibles Gleichgewicht zwischen hemmenden und fördernden Einflüssen. Die Ionenkanäle – darunter auch der Natriumkanal SCN2A – sitzen gemeinsam mit vielen weiteren Poren und Kanälen in der Zellwand einer Nervenzelle. Durch Öffnen und Schließen bestimmt SCN2A den Durchfluss von Natriumionen und beeinflusst damit die elektrische Erregbarkeit der Nervenzellen. Wenn die Funktion dieser Kanäle durch Genmutationen gestört ist (wie z.B. bei SCN2A-Mutationen), können epileptische Anfälle entstehen. Umgekehrt kann man durch die Regulierung der Aktivität von Ionenkanälen epileptische Anfälle verhindern. Antiepileptika machen sich genau dieses Prinzip zu eigen: Ein wichtiger Wirkmechanismus ist die Blockade von Natriumkanälen mit Natriumkanalblockern. Der Text basiert auf der gemeinsamen Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), der Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP) und der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie (DGfE). Quelle: Genetic and phenotypic heterogeneity suggest therapeutic implications in SCN2A-related disorders. Markus Wolff et al.; Brain, doi: 10.1093/brain/awx054; 2017