Die Pharmaindustrie steht am Pranger. Statt nachvollziehbarer Evidenz wird ihr Marketing-basiertes Kalkül vorgeworfen. Ist die evidenzbasierte Medizin eine Mogelpackung für "kreative" Marketing-Strategien?
In einem kürzlich veröffentlichten Artikel werfen Glen Spielmans, Psychologe an der Metropolitan State University, und Peter Parry, Psychiater an der Flinders University, der Pharmaindustrie vor, dass sie weniger an Evidenz als an Marketingmaßnahmen zur Etablierung ihrer Medikamente im Gesundheitsmarkt interessiert sei. Unter der Überschrift "From Evidence-based Medicine to Marketing-based Medicine: Evidence from Internal Industry Documents" beschreiben sie, wie Unterdrückung und Veränderung von negativen Studienergebnissen, Ghostwriting von so genannten Medical Writing-Agenturen, Pathologisierung gesundheitlicher Zustände oder Beeinflussung des so genannten Peer Reviewing in Fachverlagen die beweisgeführte Medizin in Frage stellt.
Neu ist der Vorwurf der Manipulation allerdings nicht. Schon 2005 berichtete der frühere Chef-Redakteur des British Medical Journal, Richard Smith, über die Rolle von Fachzeitschriften als verlängerter Marketingarm der Pharmaindustrie. Auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), dessen Noch-Chef Peter Sawicki kürzlich seinen Hut nehmen musste, weist darauf hin, dass derlei Praktiken seit mehr als 20 Jahren bekannt sind.
Publication Bias
Für ihre Behauptung führen Spielmans und Parry eine ganze Reihe von Beispielen an. Einen typischen Fall für das so genannte "publication-bias", d.h. unvollständige, geschönte Berichterstattung, lieferte aus Ihrer Sicht AstraZeneca. Als das Unternehmen im Jahr 2000 den neuen Wirkstoff Quetiapin, auch bekannt als Seroquel, auf einem Kongress der American Psychiatric Association vorstellte, habe es Studien zitiert, die "signifikante" Vorteile gegenüber Haloperidol nachwiesen. In internen Dokumenten, die zwei Monate vor der Präsentation erstellt wurden, habe in abgeschwächter Form das Gegenteil gestanden. Der Studienleiter habe zwar eingeräumt, dass man übertrieben habe. Er sei aber dabei geblieben, dass die publizierte Analyse korrekt sei. AstraZeneca sei kein Einzelfall, so die Autoren. So seien beispielsweise Paroxetine (GSK) als geeignetes Mittel gegen schwere Depressionen bei Kindern präsentiert worden, obwohl ein internes Papier darauf hingewiesen habe, dass das Medikament weder wirksam noch besonders sicher gewesen sei. Auch dieses Dokument sei nicht veröffentlicht worden.
Registrierungspflicht von Studien
Was sich wie geplante Unterlassung liest, ist allerdings in USA mehr oder weniger geduldet. Voraussetzung für die Arzneimittelzulassung in den United States ist die Anmeldung aller Studien bei der Food and Drug Administration (FDA). Einen verbindlichen Publikationszwang gibt es seit 2008. In der EU gibt es seit 2004 eine Registrierungspflicht für alle klinischen Prüfungen in der EudraCT-Datenbank. Der Inhalt ist vertraulich. Zugriff haben ausschließlich die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMEA) und die nationalen Behörden. In Deutschland sind das für die Humanmedizin das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und das Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Eine Publikationspflicht wie in den USA gibt es nicht, aber wesentliche Ergebnisse sollen künftig, d.h. noch in 2010, innerhalb von 12 Monaten in der EudraPharm-Datenbank öffentlich zugänglich gemacht werden. Das gilt aber offensichtlich nicht für Studienprotokolle.
Wahrung Interessen von Sponsoren
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) forderte deswegen auf ihrem diesjährigen Symposium - Thema: unabhängige Arzneimittelinformation - mehr Transparenz bei der Veröffentlichung von klinischen Studien. "Zu oft werden die Ergebnisse von der Pharmaindustrie zu spät bekannt oder überhaupt nicht publiziert", kritisiert der Vorsitzende Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig. Es sei wichtig, dass sich das Bundesgesundheitsministerium (BMG) für eine schnelle Veröffentlichung einsetzt, heißt es weiterhin in der Pressemeldung. Ludwig warnte in diesem Zusammenhang davor, die Informationen mehr als nötig als vertraulich einzustufen und dadurch der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Er bezieht sich dabei u.a. auf eine Drucksache des Bundestags, in der man nachlesen kann, dass "bei der Auswahl der öffentlich zugänglichen Informationen die Vertraulichkeit der Daten und die legitimen Interessen von Sponsoren berücksichtigt werden müssen" (Bundesgesundheitsministerium).
Gesetzliche Publikationspflicht als Allheilmittel?
Ende vorigen Jahres hatte das IQWiG eine Verpflichtung zur Registrierung und Publikation von Ergebnissen aller Studien auf EU-Ebene gefordert. In der Pressemitteilung heißt es u.a.: "Besonders tückisch ist, dass Ärzte und Forscher oft nicht einmal davon wissen, dass unveröffentlichte Studien existieren. Um dieses Problem aus der Welt zu schaffen, hat das IQWiG mit dem Verband forschender Arzneimittelhersteller (VFA) bereits 2005 eine grundsätzliche Einigung zur Übergabe solcher Daten vereinbart. Darüber hinaus haben die internationalen Verbände der pharmazeutischen Industrie im Januar 2005 eine Selbstverpflichtung zur Offenlegung von Informationen zu klinischen Studien abgelegt." Aber geändert hat sich laut IQWiG wenig. Man brauche daher schnellstmöglich eine gesetzlich geregelte Verpflichtung wie in den USA, so Sawicki. Offensichtlich hat der gesetzliche Publikationszwang in den USA auch nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Spielmans gegenüber DocCheck: "Es gibt Probleme mit diesem System. Meiner Meinung nach ist das größte, dass wir wissen, dass negative Ergebnisse nicht immer veröffentlicht werden oder das Daten falsch in medizinischen Journalen präsentiert werden."
Ghostwriting und der Drang zur Publikation
Wie kommt es zu diesen unkorrekten Darstellungen? Spielmans and Parry verweisen auf Manipulationen, die vom opportunen Studiendesign bis zum Extrahieren von unpassenden Datensätzen reichen. Erfahren darin seien so genannte Spezialisten, die sich nicht nur als "Ghostwriter" anbieten. Zitiert werden u.a. Dianthus Medical und Sunvalley Communication, auf deren Referenzlisten einige große Pharmaunternehmen stehen. Ghostwriting funktioniere relativ einfach, so die beiden Wissenschaftler: Man fügt Aussagen ein, die die Marketing-Power einer Publikation maximieren, und besorgt ein oder mehrere "Honorar"-Akademiker, die ihre Namen und Titel als Autoren zur Verfügung stellen. Das verleihe dem Papier Unabhängigkeit und damit mehr Glaubwürdigkeit. Medical Writer gibt es auch in unseren Breitengraden. Auch sie werben beispielsweise mit strategie-konformer Darstellung oder wirkungsvollem Marketing. Es geht also weniger um eine neutrale Darstellung, als viel mehr darum, Ärzte und Patienten von der Wirksamkeit bestimmter Medikamente zu überzeugen. Die Verlage wiederum sind bestrebt, ein attraktives Anzeigenumfeld zu schaffen. Was diesen Ansprüchen nicht genügt, scheitert an den Redakteuren oder an den Peer Reviewern. Transparenz sei nicht ihr Thema, so Spielmans und Parry.
Lösungs-Vorschläge und Praxis
Deswegen fordern die beiden Wissenschaftler, dass Verleger, Peer Reviewer, Ärzte und Patienten Zugang sowohl zu Studienprotokollen als auch zu Studienergebnissen haben sollten, um Veröffentlichungen besser bewerten zu können. Das befürwortet auch Prof. Ludwig. Der bereits erwähnte Richard Smith geht noch einen Schritt weiter. Er schlägt vor, dass die Fachverlage generell nicht mehr über Ergebnisse von klinischen Studien berichten. Die Magazine könnten sich dann mit Auswertungen und Diskussionen zu den Protokollen und Ergebnissen beschäftigen. Dass sich grundsätzlich etwas an der Publikations-Situation ändern muss, unterstreicht auch der Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V. (vfa). Man räumt ein, dass es in der Vergangenheit Fälle gegeben hat, in denen negative Studienergebnisse in den Schubladen blieben. Inzwischen sei man aber auf einem guten Weg. Die Studien seien inzwischen in allen einschlägigen Registern, u.a. bei "clinicaltrials.gov", dem de facto Standard, zugänglich. Probleme gebe es in Einzelfällen, in denen ältere Studiendaten relevant sind. Wird das Bundesgesundheitsministerium auf die Forderungen von AkdÄ und IQWiG eingehen? Unsere Anfrage konnte oder wollte man kurzfristig nicht beantworten.