Schwere Verletzungen und Traumata können zu gefährlichen Ganzkörperentzündungen führen - noch nach Jahren. Wichtig ist daher, Unfallopfer genau im Auge zu haben. Denn bis zu 15 Prozent aller Patienten mit der Spätfolgeerscheinung SIRS versterben.
Die Bundesstraße zwischen Clausthal-Zellerfeld und Goslar gilt unter Bikern als legendär. Kurvenreich, guter Zustand und beste Aussicht auf den Harz sind garantiert – schwere Unfälle inklusive. Trotzdem: Wer hier verunglückt, hat zunächst gute Chancen zu überleben. Denn die Uniklinik Göttingen ist nur 15 Flugminuten entfernt, auch Goslar bietet ausreichende Möglichkeiten der Unfallchirurgie.
Doch der Schein von Sicherheit trügt. Für viele Unfallopfer gehen die schweren Verletzungen am Ende trotz rechtzeitiger unfallchirurgischer Betreuung tödlich aus, weil Ganzkörperentzündungen nach dem Zusammenstoß die letale Folge sind. „Das Trauma nach dem Unfall“ heißt eine aktuelle Publikation im Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), das die Ulmer Unfallmediziner Markus Huber-Lang und Florian Gebhard vom Universitätsklinikum Ulm veröffentlichten.
„Trotz aller Fortschritte in der chirurgischen und anästhesiologischen Notfallversorgung der Verletzten fürchten die Mediziner nach wie vor die unverhältnismäßige Entzündungsantwort nach Trauma“, schreiben die beiden Ärzte, und: „Sie ist in ihrer Komplexität und mit ihren Komplikationen eine große Herausforderung – für den Kliniker wie für den Forscher“.
Tatsächlich löst der „First Hit“ nach dem Crash eine unheilvolle biochemische Kaskade im Körper des Verletzten aus. „Danger Associated Molecular Patterns“ nennen Fachleute jene Gefahrenmoleküle, die das Immunsystem des Patienten ins letale Chaos stürzen. „Dabei werden als frühe posttraumatische Entzündungsreaktion verschiedene Eiweißkörperkaskaden aktiviert sowie Abwehrzellen stimuliert, die ihrerseits unterschiedliche Signal- und Botenstoffe freisetzen“, erklären die Ulmer ihre Forschungsergebnisse. Die Beobachtung von lediglich vier Messwerten liefert dabei den entscheidenden Hinweis auf den bevorstehenden Kollaps. Ändern sich nämlich nur zwei der vier Messwerte Körpertemperatur, Atemfrequenz, Herzfrequenz oder Anzahl der weißen Blutkörperchen, liegt das gefürchtete Systemic Inflammatory Response Syndrome (SIRS) vor. Für 15 Prozent aller betroffenen Patienten mündet diese Ganzkörperentzündung in ein Multiorganversagen – und endet tödlich.
SIRS öffnet offensichtlich die Pforte für eine ganze Reihe von Second Hits, die dem ohnehin geschundenen Organismus des Unfallopfers zusetzen. Sauerstoffnot, Infektionen, selbst das Auftreten einer Sepsis zählen zum unsäglichen Repertoire des tückischen Syndroms, die Lunge scheint dabei für das biochemische Entzündungs-Dauerfeuer besonders anfällig. Einerseits.
Winterschlaf als Widerspruch
Andererseits fanden US-amerikanische Mediziner nach der Obduktion von Patienten, die an den Folgen der posttraumatischen Ganzkörperentzündung gestorben waren, „eine auf den ersten Blick unveränderte Organmorphologie“ vor, wie Gebhard und Huber-Lang jetzt berichten. Demnach hatte das Organ zwar nicht mehr funktioniert – erwies sich aber bei der Obduktion als intakt. Diesen massiven Widerspruch konnten die Ulmer Forscher aufklären, und prägen damit den Begriff des zellulären „Winterschlafs“. Der First Hit, so hat es den Anschein, führt nicht nur zu den tödlichen Ganzkörperentzündungen, sondern versetzt die Organe vorher in eine funktionslose Phase der Ruhe, um ihnen - eigentlich - ein Überleben zu ermöglichen.
So ist die posttraumatische Überlebenszeit der neutrophilen Granulozyten „deutlich erhöht“, wie die Ulmer Forscher herausfanden. Doch selbst das erweist sich nicht als zwangsläufig positiv. Denn die weißen Blutkörperchen führen neben einer besseren Infektabwehr gleichzeitig zu „einem beachtlichen Kollateralschaden“, wie die Unfallchirurgen im Rahmen der von der DFG geförderten Klinischen Fördergruppe (KFO) 200 feststellten.
OP: Neue Online-Überwachung als Standard?
Die Bedeutung solcher Erkenntnisse liegt auf der Hand. Bislang galt die Kette Unfall-Luftrettung- Notfall-OP und Intensivstation als Standard, doch ein Umdenken schein angebracht. „Wie eine EKG-Überwachung des Herzens ist eine engmaschige oder sogar eine online durchgeführte molekulare und funktionelle Gefahren- beziehungsweise Immunüberwachung des Verletzten zukünftig für die Anwendung präventiver Maßnahmen unerlässlich“, fordern Gebhard und Huber-Lang. Man darf prophezeien: Auch Allgemeinmediziner werden die Nachsorge überdenken.