In Deutschland wird über den Ärztemangel diskutiert, besonders über die Situation auf dem Land. Die Schweiz hat im Gegensatz zu Deutschland schon eine Alternative gefunden, den "Doc around the clock": der Arzt, der am Telefon Kranke versorgt und Diagnosen erstellt. Für manche Dörfer ohne einen Arzt in der Nähe mag das eine gute Alternative sein, aber ist es eine Lösung?
Im Schweizer Gesundheitswesen ist der Arzt manchmal nur eine Stimme am Telefon. Dieses ersetzt mittlerweile in vielen ländlichen Gebieten, denen es an Ärzten mangelt, den Gang in die Praxis - zumindest teilweise. Alle Versicherten, die Rat suchen, können mittlerweile kostenlos einen ärztlichen Telefondienst anrufen und sich eine Diagnose erstellen lassen. Damit sparen sie sich gegebenenfalls einen Gang zum Arzt. Durch den Telefondienst wird außerdem versucht, vollgestopften Wartezimmern und unnötigen Behandlungen entgegenzuwirken. Die Patienten können so auch effizienter an Fachärzte vermittelt werden.
Man stellt sich nun die Frage, wie so etwas in einem gut organisierten und eigentlich recht teuren Gesundheitssystem entstehen kann. Das ist ganz einfach, denn in der Schweiz ist es erlaubt, ärztliche Ratschläge und Diagnosen am Telefon zu vermitteln, aber auch Rezepte auszustellen und den Verlauf von Krankheiten zu verfolgen. Die deutsche Berufsordnung verbietet dies, in der Schweiz ist es hingegen seit gut zehn Jahren ganz normal. Die Anrufer erreichen bei diesem System sofort einen Arzt, viele davon sind hauptsächlich Fachärzte für Allgemeinmedizin, aber auch Internisten und Ärzte aus anderen Fachgebieten stehen den Patienten per Telefon zur Verfügung.
Nachfragen statt abtasten
Da die Ärzte ihre Patienten nicht sehen können, konzentrieren sie sich ganz auf das Zuhören. So können sie sich durch gezieltes Nachfragen an ihre Diagnose herantasten. Das Positive daran ist, dass die Ärzte ihre Patienten nicht sehen können und sich so vom Äußeren des Patienten nicht beeinflussen lassen können. Auch kann er sich auf Tugenden wie Einfühlungsvermögen und Anteilnahme besinnen. Darin könnte aber auch ein großes Problem liegen, denn manchmal hilft es dem Arzt mehr als alles andere, den Patienten zu sehen, besonders bei Erkrankungen der Haut, die man am Telefon nur sehr schwer diagnostizieren kann. Es besteht zwar die Möglichkeit, von diversen äußerlichen Veränderungen Fotos zu schicken, aber es ersetzt nicht die Diagnose in einer Praxis. Ein solches Telefon-Gespräch dauert im Durchschnitt 15 Minuten, etwas länger als in einer Praxis in Deutschland, wo dem Patienten ein paar Minuten weniger gewährt werden. Außerdem fällt die lästige Warterei im Wartezimmer weg.
Man kann die Anrufer der ‚Arzt-Hotline’ in drei Gruppen unterteilen: Die erste Gruppe wird zum Facharzt oder in eine Klinik geschickt, die zweite Gruppe war schon bei einem Arzt und möchte eine zweite Meinung zu der ersten Diagnose hören, die dritte Gruppe möchte wissen, ob sie überhaupt zu einem Arzt muss. Es gilt aber immer die gleiche Faustregel: Je klarer die Kriterien, desto eher ist der Gang zum Arzt vermeidbar. Besonders bei Diagnosen, bei denen die Therapie und Nachsorge eindeutig ist, sind die Gänge zum Arzt vermeidbar. Sind die Symptome aber unspezifisch und nicht genau abklärbar, so bekommt der Patient den Rat, sich in einer Praxis vorzustellen. Und bestimmte Krankheiten wie Depressionen sollten generell in einer Praxis von Angesicht zu Angesicht abgeklärt werden.
Auch über die Krankenkasse läuft dieses System mittlerweile perfekt. Fast alle Versicherten in der Schweiz haben kostenlosen Zugang zu den Callcentern. Diese rechnen dann ihre Arbeit pauschal mit der Versicherung ab. Pro versichertem Patienten erhält sie eine Prämie, unabhängig davon, wie oft der Versicherte anruft und wie lange die Gespräche mit ihm dauern. Die Anrufer müssen sich nur mit ihren Namen identifizieren. Ruft ein Patient zum ersten Mal an, wird eine Akte zu ihm angelegt, die bei jedem weiteren Anruf aufgerufen wird. Diese Akte wird zehn Jahre lang aufbewahrt.
Ständige Qualitätskontrolle
Die Callcenter bringen noch weitere Vorteile mit sich: Während Ärzte und Praxis-Personal oftmals im Umgang mit den Patienten nicht richtig geschult werden, werden die Telefon-Berater in punkto Gesprächsverhalten einen Monat lang geschult. Dann folgt eine Prüfung und jährlich eine weitere Prüfung. Alle Gespräche werden aufgezeichnet und von Oberärzten mitverfolgt. Mehrere Anrufe pro Quartal und mindestens ein Arzt werden ebenfalls zufällig ausgewählt und kontrolliert.
Während ein normaler Hausarzt lediglich sein im Kopf gespeichertes Wissen parat hat, kann der Arzt in den Callcentern auf mehrere Rechner zugreifen. Der erste Rechner greift zum Beispiel auf die angelegte Patientenakte zu, der zweite Rechner auf eine Liste mit Medikamenten und Nebenwirkungen und der dritte Rechner bei Bedarf auf ein firmeneigenes Handbuch mit Informationen zum aktuellen wissenschaftlichen Stand. Ebenso steht immer ein Oberarzt für Rückfragen zur Verfügung. Medikamentenmissbrauch kann in diesem System vermieden werden, indem man die ausgestellten Rezepte nicht an die Patienten verschickt, sondern an eine von ihnen ausgewählte Apotheke.
Der Arzt ist immer erreichbar
Durch dieses System erhält der Patient ärztlichen Beistand, wann immer er ihn braucht, ohne Wartezeit und rund um die Uhr. Für viele Patientengruppen wie Berufstätige oder Personen mit kleinen Kindern ist das optimal. So entfallen Anfahrten zum Arzt und lange Wartezeiten. Berufstätige fallen zudem auf ihrer Arbeit nicht gleich für ein paar Stunden aus.
In Deutschland versucht man solche Dienste auch langsam einzuführen. Viele Krankenkassen bieten Hotlines an, die Patienten anrufen können, um sich Rat zu holen. Diese Hotlines betonen aber immer wieder, dass sie keine ärztliche Diagnose ersetzen können. Diese Grenze wird auch in Deutschland nicht überschritten, denn die Berufsordnung verbietet diese Art der Diagnose ("Ferndiagnoseverbot"). Dabei wäre vielleicht ein Umdenken nicht schlecht, denn keine andere Nation verbringt so viele Stunden beim Arzt wie die deutsche Bevölkerung. Außerdem gibt es in Deutschland auch viele Gegenden, in denen großer Ärztemangel herrscht und wo man einfach keinen Ersatz findet. In diesen Regionen könnten die Hotlines den Menschen helfen abzuschätzen, ob sie sich eventuell den weiten Weg zum Arzt sparen können oder ob es sich doch lohnt, die Zeit zu investieren.
Fazit
Ob Hotlines dem Patienten tatsächlich eine kompetente und direkte Beratung beim Arzt ersetzen, ist natürlich die Entscheidung des Patienten. Ein solches System könnte den gravierenden Auswirkungen des Ärztemangels jedoch zumindest etwas entgegenwirken, bis man eine bessere Lösung gefunden hat.