"Dürre Mädchen, die immer in den Spiegel schauen und nie was essen." So oder so ähnlich lautet die volkstümliche Definition der Magersucht. Doch was verbirgt sich wirklich hinter dieser höchst lebensgefährlichen Erkrankung?
Der Begriff "Anorexia nervosa" ist im Grunde eine Fehlbezeichnung für die Krankheit. Jedoch hat sich dieser Begriff allgemein eingebürgert. "Anorexia" stammt aus dem neulateinischen und bedeutet Appetitlosigkeit. Obwohl die Nahrungsaufnahme erheblich eingeschränkt wird, liegt die Ursache der Magersucht nicht in mangelndem Appetit. Im Gegenteil: Magersüchtige verspüren meist einen sehr großen Appetit, verleugnen diesen aber.
Magersucht ist eine Essstörung, die mit selbstinduziertem massivem Gewichtsverlust einhergeht und besonders Mädchen und junge Frauen im Alter von 14 bis 20 Jahren betrifft. Allerdings treten auch Ersterkrankungen vor dem 10. und nach dem 25. Lebensjahr auf.
Die Betroffenen halten meist eine strenge Diät oder verweigern Nahrung völlig. Häufig beginnt die Magersucht kurz nach dem Einsetzen der ersten Menstruation. In den letzten Jahren hat sich die Altersgrenze immer weiter nach unten verschoben, nicht selten sind schon Mädchen im Grundschulalter betroffen – und zunehmend auch Jungen. Insgesamt sind aber nur fünf bis zehn Prozent aller Magersüchtigen männlich.
Anorexia nervosa ist eine Erkrankung der Industrienationen. Betroffene stammen meistens aus gut situierten, intellektuellen Gesellschaftsschichten, gelten als leistungsorientiert und werden häufig als Musterschüler mit perfektionistischen Zügen beschrieben. Durch die Nahrungsverweigerung versuchen sie, seelische Konflikte auszutragen. In Ländern mit Nahrungsmangel ist diese Art der Konfliktbewältigung nicht verbreitet.
Wie häufig kommt Anorexia nervosa vor?
Während die Anorexia nervosa in der Gesamtbevölkerung sehr selten ist, ist sie bei jungen Frauen zwischen 15 und 25 deutlich häufiger. In der Fachliteratur wird dazu eine Häufigkeit von 1% erkrankter junger Frauen genannt, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung berichtet, jede Dritte zwischen 12 bis 20 Jahren leide zumindest an Frühformen einer Essstörung. Bei 14 Prozent dieser Altersgruppe bestünde ein sehr hohes Risiko für die Entwicklung einer Magersucht.
Was sind die Ursachen?
In der Entstehung der Anorexia nervosa wirken vermutlich viele verschiedene Faktoren zusammen, die miteinander wechselwirken. Dazu zählen seelische, gesellschaftliche und biologische Einflüsse.
Das Schlanksein als gesellschaftliches Ideal ist meistens der erste Anstoß abzunehmen. Diesen Impuls können gefährdete junge Menschen dann aber irgendwann nicht mehr kontrollieren und schießen weit über das Ziel hinaus. Immer wieder wird als Hintergrund des Hungerns die Angst vor Erwachsenwerden und vor Übernahme der Geschlechterrolle diskutiert. Das Wiedererreichen oder Beibehalten eines kindlichen Körperbildes schützt unbewusst vor Konflikten, die sich mit erwachender Sexualität ergeben. Sexuelle Regungen werden von Magersüchtigen eher als erschreckend empfunden und abgelehnt.
Unterschwellige Konflikte in der Familie, die nicht offen ausgesprochen werden, schüren die Essstörung zusätzlich. Magersüchtige sind häufig sehr harmoniebedürftig und versuchen, die Familie durch ihre Erkrankung zusammenzuhalten und Spannungen abzuleiten. Zudem stellt die Essstörung häufig einen Lösungsversuch für tiefer liegende seelische Probleme dar. Verdrängte Affekte und Bedürfnisse werden durch restriktives Essverhalten ersetzt. Die Nahrungsverweigerung kann die einzig mögliche Art der Machtdemonstration über den eigenen Körper vermitteln, oder auch stummer Protest gegen seelische Belastung (etwa Leistungsdruck) sein, die anders nicht bewältigt werden kann.
Kann Anorexia nervosa vererbt werden?
Auch eine vererbbare Komponente der Magersucht scheint zu bestehen. Eineiige Zwillinge von Erkrankten sind in der Hälfte der Fälle auch betroffen, bei zweieiigen liegt diese Übereinstimmung unter zehn Prozent. Alle Verwandten ersten Grades haben eine achtmal höhere Wahrscheinlichkeit, an Anorexia nervosa zu erkranken, als der Bevölkerungsdurchschnitt.
Alle beeinflussenden Faktoren münden in einem gemeinsamen Kernproblem: der Überschätzung des eigenen Körperumfangs. Diese so genannte Körperschemastörung ist der Grund für das eiserne Festhalten an dem krankhaften Essverhalten. Vor allem Bauch, Oberschenkel und Hüften sind Objekt dieser Fehlwahrnehmung. Auch kurz vor dem Hungertod empfinden sich Magersüchtige als "zu dick" und zeigen dem erstaunten Gesprächspartner ihre "Fettwülste". Hierzu fanden Wissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum heraus, dass Magersüchtige eine Substanzverminderung in dem Bereich des temporalen Cortex aufweisen, der für visuelle Verarbeitung von Körperformen zuständig ist. Ob es sich hierbei um eine (vererbbare) Prädisposition zur Magersucht oder um eine Krankheitsfolge handelt, konnte bislang nicht gezeigt werden.
Wie genau äußert sich eine Anorexia nervosa?
Häufig beginnt die Erkrankung nach einer erfolgreichen Diät, wobei auffällt, dass der Kalorienplan auch danach beibehalten wird. Die Magersüchtigen vermeiden akribisch kalorienreiche Nahrung und essen augenfällig langsam: Das Essen wird in kleinste Stücke zerpflückt, und selbst winzige Mahlzeiten dauern lange. Reichhaltige Nahrungsmittel wie Fleisch oder Käse verschwinden ganz vom Speiseplan.
Im Gegensatz dazu kochen und backen die Nahrungsverweigerer aufopferungsvoll für Familie und Freunde, sie selbst nehmen aber an den gemeinsamen Mahlzeiten immer seltener teil. In der Küche essen sie mitunter Baby- und Kindernahrung oder dünne Breie und Quark. Insgesamt sind Menschen, die zu Anorexia nervosa neigen, kopfgesteuert: Sie betonen die Überlegenheit der Vernunft über den Körper. Sie gönnen sich auch unabhängig vom Essen wenig und leben eher spartanisch. Körperlich sind sie oft exzessiv aktiv und treiben Sport bis zur Erschöpfung.
Liegt das Körpergewicht bei ansonsten körperlich gesunden Menschen 15 Prozent unterhalb des Normalgewichts, spricht man von Anorexia nervosa. Teilweise verlieren Anorektiker 20 Prozent ihres ursprünglichen Körpergewichts innerhalb von weniger als sechs Monaten. Trotz starker Gewichtsabnahme fühlen sie sich immer noch zu dick (Körperschemastörung) und wiegen sich oft mehrmals täglich.
Neben strenger Diät und sportlicher Betätigung verwenden Magersüchtige vom sogenannten "Purgingtyp" zusätzlich "Hilfsmittel" wie Appetitzügler und Abführmittel um abzunehmen. Andere lösen selbst Erbrechen aus, die Übergänge zur Bulimie sind fließend. Oft magern sie auf 45 Prozent ihres Gewichts ab, viele wiegen nur noch um die 30 Kilogramm. Erschreckenderweise fehlt vielen auch dann noch jegliche Krankheitseinsicht.
Körperliche Schäden durch die Mangelernährung sind Ausfall der Monatsblutung durch Hormonstörung, keine Lust auf Sex, niedriger Blutdruck (Hypotonie), Unterzuckerung (Hypoglykämie), Haarausfall, Wachstumshemmung und Osteoporose. Weil auch der Eiweißhaushalt im Gewebe beeinträchtigt ist, können Wasseransammlungen (Ödeme) unter der Haut zu sehen sein. Eine therapieresistente Anorexia nervosa endet zumeist im Nierenversagen.
Die Betroffenen haben panische Angst vor der Gewichtszunahme, was irgendwann ihr komplettes Denken und Handeln bestimmt. Häufig werden sie depressiv und stark reizbar oder leben in sozialer Isolation, unternehmen nichts mehr und kapseln sich von Freunden und Familie ab.
Wie sieht die Therapie aus?
Magersucht bringt sowohl körperliche als auch seelische Symptome mit sich, wodurch die Behandlung interdisziplinär beide Aspekte abdecken muss. Insbesondere wenn das Körpergewicht unter 75 Prozent des Normalgewichts liegt, die körperliche Verfassung lebensbedrohlich ist oder aufgrund der depressiven Verstimmung Selbstmordgefahr besteht, sollte die Behandlung zunächst stationär im Krankenhaus stattfinden. Bei akuter Lebensgefahr und fehlender Behandlungsbereitschaft des Erkrankten, kann die Therapie auch auf richterliche Anordnung hin erfolgen.
Langfristig kann eine Normalisierung des Gewichts jedoch nur erreicht werden, wenn auch die Ursachen der Anorexia nervosa behandelt werden. Aufgrund der Vielfalt der Faktoren, die an der Entstehung der Störung beteiligt sind, umfasst die Therapie verschiedene Komponenten. Deshalb wird in spezialisierten Kliniken ein individuell zugeschnittener Behandlungsplan erstellt, der unterschiedliche Ansätze integriert:
Psychotherapie
Psychotherapie mit Familiengesprächen, Einzelgesprächen und Elternberatung (systemische Familientherapie) ist ratsam, da sich festgefahrene Familiensituationen so lösen lassen. Im Rahmen einer Verhaltenstherapie ersetzen die Erkrankten Schritt für Schritt das anorektische Verhalten durch Verhaltensweisen, die weniger schädlich sind und mehr seelische Befriedigung verschaffen. Sie lernen, ihr Körpergewicht und ihre Figur wieder realistisch zu beurteilen.
Soziotherapie
Eine wichtige Voraussetzung für ein langfristig gutes Therapieergebnis ist ein neues, stabiles Lebensumfeld. Die Betroffenen lernen in therapeutischen Wohngemeinschaften, Verantwortung für sich und die Mitbewohner zu übernehmen. Sie übernehmen spezifische Aufgaben und steigen so bald wie möglich wieder in ihren Beruf oder in ihre Ausbildung ein, um ihren Tagesablauf mit festen Terminen zu füllen.
Medikamente
In manchen Fällen ist eine medikamentöse Behandlung notwendig, besonders wenn Depressionen oder schwere Zwangssymptomatik hinzukommen. Bei Hormonmangelerscheinungen kann auch eine vorübergehende Hormonersatztherapie notwendig werden.
Ernährung
Regelmäßige Gewichtskontrollen dienen dazu, den Behandlungsverlauf zu beurteilen. Dazu werden im Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patient wöchentliche Gewichtszunahmen vereinbart. Kostanleitungen durch Diätassistenten helfen, die Ernährung auch langfristig sinnvoll zu gestalten.
Die Behandlung dauert insgesamt oft mehrere Jahre und kann nach der Akutphase im Krankenhaus bei einem erfahrenen Arzt oder Psychotherapeuten erfolgen.
Prognose
Bei Magersucht kann es sich um ein dramatisch verlaufendes Krankheitsbild handeln, das mit einer hohen Sterberate verbunden ist. Nach einer Behandlung zeigt sich bei etwa 30 Prozent der Patientinnen eine vollständige Besserung, sie erreichen zumindest annähernd das Normalgewicht und haben regelmäßig ihre Menstruation. Bei 35 Prozent lässt sich zwar eine Gewichtszunahme feststellen, der Bereich des Normalgewichts wird allerdings nicht erreicht. Das Krankheitsbild bleibt bei ca. 25 Prozent der Betroffenen chronisch bestehen.
Komplikationen
Besteht die Magersucht über Jahre hinweg, kann sie eine Reihe von schweren körperlichen und seelischen Folgen nach sich ziehen: Permanenter Hungerzustand und der Missbrauch von Abführmitteln lösen eine Osteoporose sowie Schäden an Herz, Leber und Nieren aus. Bei Jugendlichen setzt eine Wachstumshemmung ein.
Das Absinken des Energieverbrauchs, sowie von Puls, Blutdruck und Körpertemperatur führt zu Abgeschlagenheit, Frieren und Obstipation. Eine Veränderung der Hormonlage führt zuerst nur zu trockener, rissiger Haut und brüchigen, dünnen Haaren. Später bleibt die Menstruation aus (Amenorrhö), vorausgesetzt die Magersüchtige nimmt nicht die Pille, die auf künstlichem Wege eine Monatsblutung herbeiführt. Männer erleben eine Abnahme von Libido und Potenz. Unterernährungsbedingte Anämien können auftreten. Es treten Müdigkeit und Konzentrationsschwäche auf. Es kann im Extremfall auch zu einer Abnahme der Gehirnsubstanz kommen (Gehirnatrophie). Das psychische Gleichgewicht geht verloren und Missmut, Depressionen und Selbstmordgedanken kommen langfristig auf. Dazwischen kann es allerdings auch immer wieder zu Hochstimmungen und Überlegenheitsgefühlen kommen (Stolz, das Hungergefühl besiegt zu haben), was sicherlich ein Aspekt der suchterzeugenden Wirkung des Hungerns ist.
Fazit
Anorexia nervosa ist eine nicht zu unterschätzende Krankheit, deren Opfer immer jünger werden. Die Ursachen der Krankheit sind vielfältig, die Behandlung muss dementsprechend individuell geplant sein. Viele Betroffene können durch eine Therapie geheilt werden, bei jahrelanger Erkrankung drohen jedoch körperliche und seelische Schäden.