Der Balkan liefert ein enormes Arsenal an bislang unentdeckten Heilpflanzen - Apotheken könnten damit punkten. Denn eine jetzt im österreichischen Fachblatt Scientia Pharmaceutica veröffentlichte Studie zeigt die Einsatzpotenziale der hierzulande unbekannten Kräuter, Balsame und Tinkturen am Beispiel Bosnien Herzegowinas auf.
Wer nach mühseligem Aufstieg den See auf 1670 Meter erreicht, blickt auf die umliegenden Gipfel des bosnischen Vranica Massivs. Asphaltierte Zufahrtsstraßen gibt es hier keine. Vor nunmehr genau drei Jahren aber beendete ein Tross aus Ärzten, Pharmazeuten und anderen Wissenschaftlern die Ruhe im Gebirgsidyll. Bewaffnet mit Notizblöcken und Aufnahmegeräten startete eine Forscherarmada um die Pharmaethnologen Broza Saric-Kundalic und Elisbeth Fritz vom Department für Pharmakognosie der Universität Wien eine Offensive: Sie befragten örtliche Hirten und Greise nach den seit Jahrhunderten bestehenden „Mehlems“, geheimen Rezepturen also, die in Form von Salben, Tinkturen oder gar als Infusion zum Einsatz gegen alle möglichen Leiden kommen.
Was altmodisch klingt, begeistert westeuropäische Pharmazeuten zunehmend, wie die jetzt im österreichischen Fachblatt Scientia Pharmaceutica veröffentlichte Studie belegt. Denn die Arbeit zieht nach drei Jahren intensiver Auswertung der „Mehlems“ Bilanz. Fazit der Pharmakologen: Die Einsatzpotenziale der hierzulande unbekannten Kräuter, Balsame und Tinkturen in Bosnien und Herzegowina sind groß - und reichen von der Behandlung hartnäckiger Atemwegserkrankungen bis hin zur Linderung urologischer Leiden nicht nur der Hirten auf den Gipfeln des Massivs.
Gleich 82 seit 1817 verwendete Rezepturen und dazu gehörige 43 Pflanzenspezies machen das Pharmaarsenal der Balkan-Enklave aus. So wirkt ein Sud aus Blättern von Achillea collina gegen Psoriasis, die Blüten von Aesculus hippocastanum wiederum machen hartnäckigen Hämorrhoiden den Garaus. Centaurium erythaea soll bei Influenza helfen, während Frangula alnus Krämpfe lindert. Gegen Rheuma, das wussten vermutlich bereits die im Balkan einfallenden Ottomanen, hilft Picea albies, während Picea glauca Hautverletzungen heilt. An sieben weitere Arten hätten selbst westliche Druiden ihre Freude: Arctium, Calina, Euphrasia, Hypericum, Plantago, Teucrium und Urtica liefern jene Bestandteile, aus denen Bosniens Heiler ihre „Mehlems“ mixen. Dass die Salben, in kleinen tönernen Gefäßen untergebracht, zum Balkan-Alltag zählen, ist die eine Sache. Dass sie selbst in modernen Zeiten und im fernen Abendland ebenso wirken können, scheint nach der Publikation der Wiener Forscher ebenso festzustehen.
Der Balkan: Einfach näher dran
Die Suche nach regionalen Heilpflanzen wäre an sich nicht neu. Bereits im Jahr 2002 wurde im Rahmen des BIOLOG-Projekts am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie gemeinsam mit pflanzenkundigen Dorfältesten und Wissenschaftlern Heilpflanzen taxonomisch bestimmt und phytochemisch dokumentiert. Vor Ort angefertigte Chromatogramme gaben Aufschluss über mögliche, medizinisch interessante Inhaltsstoffe – allerdings handelte es sich um ein Vorhaben im Salonga-Nationalpark der Demokratischen Republik Kongo. Der Balkan, so die schlichte Erkenntnis der Österreicher nach dem Besuch in Bosnien, liegt in dieser Hinsicht einfach näher – und bietet womöglich ebenso viel wie die geheimnisvollen Regenwälder Afrikas.
Zudem winkt ein pragmatischer Aspekt: Vom Boom der balkanischen Ethnobotanik dürften auch deutsche Apotheken profitieren. Denn über 2 Millionen Menschen in Deutschland sind Migranten, deren Herkunftsländer auf den Balkan liegen. Wer als deutscher Apotheker oder Apothekerin unvoreingenommen auf die Heilkraft der Wurzeln, Kräuter und Blüten blickt, sollte verstehen: Ob Türken, Serben, Kroaten, Rumänen, Bulgaren oder Bosnier, sie alle ließen sich in deutschen Apotheken zusammenführen, um jene Präparate zu beziehen, die schon ihre Urahnen erfolgreich nutzten. Denn die Balsame versprechen, anders als die oft so wechselhafte Geschichte ihrer Länder, vor allem Beständigkeit, wie Autorin Fritz und ihre Kollegen schreiben. Die Rezepturen wurden trotz Kriegen über Jahrhunderte weitergegeben, „von Generation zu Generation“.