Leben retten oder sterben lassen? Eine Patientenverfügung soll für Ärzte bei dieser Frage eine Richtschnur sein. Doch was ist, wenn das Schriftstück unwirksam ist? Anhand von Entscheidungen des BGH wird erklärt, wie eine wirksame Patientenverfügung formuliert sein muss.
Ein Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom Juli 2016 (BGH, Beschluss vom 06.07.2016, Az: XII ZB 61/16) hat Folgen: Viele ältere Vollmachten mit korrespondierender schriftlicher Patientenverfügung sind faktisch wirkungslos. Das ist für manche Familien bitter … Der Beschluss thematisiert insbesondere Anforderungen an die Konkretheit der Vorsorgevollmacht. Nur wenn die Vollmacht – z.B. auch mit anwaltlicher oder notarieller Unterstützung – richtig formuliert ist, kann der Bevollmächtigte im Sinne des Betroffenen umfänglich für ihn einstehen. Die Betonung liegt auf: richtig formuliert. Die Entscheidung aus diesem Jahr (BGH, Beschluss vom 08.02.2017, Az: XII ZB 604/15) geht näher auf die Bindungswirkung einer wirksamen Patientenverfügung ein.
Nach einem Hirnschlag wurde eine 70-jährige Frau dauerhaft pflegebedürftig und musste per Magensonde versorgt werden. Ein Jahr später verlor sie nach mehreren epileptischen Anfällen die Fähigkeit zu sprechen. Die bevollmächtigte Tochter und die behandelnde Hausärztin sind überzeugt, dass die Patientenverfügung den Abbruch der künstlichen Ernährung nicht rechtfertigt. Zwei weitere Töchter sehen dies anders und klagten. Die Patientin hatte 2003 eine Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung erstellt. Die Vorsorgevollmacht berechtigte den Bevollmächtigten „mit dem behandelnden Arzt alle ... Entscheidungen abzusprechen. [Sie] soll meinen Willen im Sinne der Patientenverfügung einbringen und … Einwendungen vortragen ...“. Kurz vor dem Hirnschlag erneuerte die Frau die Erklärungen mit notarieller Unterstützung. Die Patientenverfügung blieb wortgleich, die Vorsorgevollmacht wurde neu gefasst. Hiernach darf der Bevollmächtigte „auch in … die Durchführung eines ärztlichen Eingriffs einwilligen, … Einwilligungen verweigern oder zurücknehmen… Die Vollmacht enthält die Befugnis, über den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen zu entscheiden ...“.
Die Bevollmächtigte ist nur dann berechtigt, auch angesichts der Gefahr des Todes des Betroffenen in einen ärztlichen Eingriff einzuwilligen oder sie zu verweigern, wenn
Diese festgelegten Anforderungen an eine Vorsorgevollmacht begründet der BGH auch mit dem Gesetzeszweck. Die Vollmacht müsse erkennen lassen, dass der Erklärende dem Bevollmächtigten die Befugnis erteilt, gegebenenfalls auch Entscheidungen zu einer passiven Sterbehilfe zu treffen. Im Text muss stehen, dass der Betroffene sein Schicksal selbst wenn es „um Leben oder Tod geht“ in die Hände der Bevollmächtigten legt (BGH 2016, Rn 20). Die Vollmacht aus 2003 genügt diesen Anforderungen des BGH nicht. Sie gestattet, Entscheidungen „abzusprechen“. Der Bevollmächtigte darf das Gespräch mit den behandelnden Ärzten führen, entscheiden darf er nicht. Anders die notariell verfasste Vorsorgevollmacht. Hierin steht, das und wie die Bevollmächtigte entscheiden darf: Sie darf einwilligen, verweigern und zurücknehmen und sie darf den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen verlangen.
Der BGH begründet die hohen Anforderungen an die Konkretisierung in Vorsorgevollmachten mit der in 2013 erweiterten Entscheidungsbefugnis. Während Betreuer und Bevollmächtigte früher nur in medizinische Maßnahmen (z.B. schwere Operation) einwilligen, die ggf. tödlich verlaufen können, dürfen sie seit 2013 auch Maßnahmen verweigern oder Einwilligungen widerrufen. Wie bei Einwilligungen in Maßnahmen, durch die der Betroffene sterben kann, braucht auch beim Unterlassen oder Abbrechen keine gerichtliche Genehmigung eingeholt werden, wenn sich Betreuerin oder Bevollmächtigte und Ärztin einig sind, dass die Entscheidung dem Willen der Betroffenen entspricht. Wegen der neuen Entscheidungsbefugnis zu passiver Sterbehilfe, weist der BGH auf wesentliche Unterschiede zwischen Betreuer und Bevollmächtigte hin: Ein Betreuer wird vom (wahrscheinlich meinten Sie "vom" - ja!) Gericht bestellt. Geprüft wird, ob und in welchen Belangen Betreuungsbedarf besteht und ob der Betreuer dafür geeignet ist. Außerdem unterliegt der Betreuer, in dem was er tut, der gerichtlichen Kontrolle. Dem gegenüber werden viele Vollmachten ohne rechtliche Beratung erteilt. Und selbst wenn, prüft niemand, ob der Bevollmächtigte persönlich oder fachlich geeignet ist, dem Willen des Betroffenen gemäß zu handeln. Zudem ist die gerichtliche Kontrolle des Bevollmächtigten eingeschränkt. Wegen dieser Unterschiede dient es dem Schutz des Betroffenen, dass der Text dem Betroffenen sagt: Ich lege mein Schicksal in dessen Hände. Der BGH fordert daher, dass die Vollmacht ausdrücklich die Befugnis zur Letztentscheidung für Situationen überträgt, „in denen es buchstäblich um Leben oder Tod geht“ (BGH 2016 Rn. 20). Die notarielle Urkunde der 70-jährigen erfüllt diese Anforderungen. Welche konkreten medizinischen Maßnahmen der Bevollmächtigte bewilligen oder verweigern darf muss auch klar sein. Es genügt, wenn die Vollmacht auf die Patientenverfügung verweist, in der diese konkret benannt sind.
Ist die Vollmacht somit wirksam erteilt, ist zu prüfen, ob die Betroffene in der Patientenverfügung
Dreimal „ja“ heißt: Diesem Willen muss entsprochen werden. Untersuchungen oder Behandlungen die diesem Willen entgegen stehen, stellen eine Körperverletzung dar.
Die Betroffene hat für die vorliegende Behandlungssituation per Patientenverfügung selber entschieden, wenn die ärztliche Maßnahme konkret benannt ist oder sich die Konkretheit durch Bezug auf spezifische Krankheiten oder Behandlungssituationen ergibt (BGH 2016 und 2017, jeweils 3. Leitsatz). Dann ist auch der Bevollmächtigte gebunden, es bleibt kein Raum für dessen eigene Entscheidung. Hat im beschriebenen Fall die Frau schon selber entschieden? In ihrer Patientenverfügung steht, dass medizinisch alles auszuschöpfen sei, so lange „Aussicht auf Erhaltung eines erträglichen Lebens besteht“. Lebensverlängernde Maßnahmen sollen aber unterbleiben, wenn sie sich im Sterbeprozess befindet, keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins besteht oder „ein schwerer Dauerschaden des Gehirns“ zurückbleibt. Sie möchte „in Würde und Frieden sterben können“. Abschließend steht dort: „Aktive Sterbehilfe lehne Ich ab“. Der BGH sagt: Nein! Formulierungen, wie der Wunsch nach „würdevollem Sterben“ oder „lebensverlängernde Maßnahmen“ zu unterlassen, wenn ein „Therapieerfolg nicht mehr zu erwarten“ sei, genügen nicht. Die Patientenverfügung bindet nur unmittelbar, wenn sie konkrete Entscheidungen über noch nicht unmittelbar bevorstehende ärztliche Maßnahmen enthält. (BGH 2016 Rn 46, BGH 2017 Rn 17). Zudem muss gesichert sein, dass die vorweg getroffene Entscheidung in der aktuellen Behandlungssituation gelten soll (BGH 2017, Rn. 18). Für den 2016er Fall sind Maßnahmen und Behandlungssituation zu unscharf benannt. In der Patientenverfügung steht nur allgemein „lebensverlängernde Maßnahmen“ und „schwerer Dauerschaden des Gehirns“. Erforderlich wäre laut BGH entweder die Benennung der anstehenden Maßnahme „künstliche Ernährung“ oder ein konkreter Bezug auf die vorliegende Krankheiten oder Behandlungssituationen. Hieran mangelt es. Konkret benannt sind der Sterbeprozess und eine dauerhafte Bewusstlosigkeit, beides liegt nicht vor. Die Frau ist aber nicht mehr in der Lage, verbal zu kommunizieren. Der BGH sagt, es sei unklar, ob diese Situation von der Umschreibung „schwere Dauerschaden des Gehirns“ gemeint ist, weil offenbleibt, wann wer welchen Gehirnschaden als „schwer“ bewertet. Ob die Frau, bevor sie die Fähigkeit des Sprechens verlor, mündlich einen Behandlungswunsch äußerte, wurde von den vorhergehenden Instanzen nicht geprüft. Hätte sie z.B. gesagt, bei einer bestimmten Verschlechterung wolle sie sterben und/oder dass dann die Ernährung eingestellt werde, sähe die Sache anders aus. Den mutmaßlichen Willen dahin konnte der BGH auch nicht feststellen. Jedenfalls erlebte die Betroffene bis zum Verlust des Sprechens ihr verbliebenes Leben als „erträglich“, denn sie selber hat der künstlichen Ernährung nie widersprochen (BGH 2016, Rn 52 ff). Das vorangehende Gericht muss den Fall noch einmal prüfen. Insbesondere ist laut BGH zu klären, ob ein Behandlungswunsch oder mutmaßlicher Wille erkennbar.
Der Einzelfall entscheidet, ob eine Patientenverfügung genügt oder nicht. In dem 2017 vom BGH entschiedenen Fall lag eine gleichlautende Patientenverfügung vor, wie in 2016. Auch hier erlitt die Betroffene einen Schlaganfall, fiel aber später in hypoxisch bedingtes Wachkoma. Auch sie wurde dauerhaft künstlich ernährt. Auch hier ging es um die Frage: Muss oder darf die Ernährung abgebrochen werden? Vor dem BGH urteilte ein Landgericht. Dieses folgerte aus dem Satz „Aktive Sterbehilfe lehne ich ab“, dass die Betroffene den Abbruch der begonnenen künstlichen Ernährung ablehne. Das bewertet der BGH anders: Er erkennt darin allenfalls einen gewissen Widerspruch zu anderen Erklärungen in der Verfügung.
[Anmerkung: Ein Behandlungsabbruch ist dann keine aktive Sterbehilfe und deshalb erlaubt, wenn dies dem erklärten Willen des Betroffenen widerspricht und der Abbruch dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen (BGH 2. Strafsenat, Urteil vom 25.06.2010, Aktenzeichen: 2 StR 454/09). Sie kann zudem ärztlich geboten sein, bei infauster Prognose oder wenn sich der Patient im unmittelbaren Sterbeprozess befindet (Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, S. 2)]
Auch in diesem Fall sagt der BGH, dass es nicht ausreicht, dass sie „lebensverlängernde Maßnahmen“ ablehne. Und selbst hier sei die Formulierung „schwerer Dauerschaden des Gehirns“ zu unpräzise. Dennoch genügt jetzt die gleichlautende Patientenverfügung um den Abbruch der Ernährung zu rechtfertigen. Der Grund: Die Frau liegt im Wachkoma und damit ist die umschriebene Situation „dauerhafte Bewusstlosigkeit“ gegeben. Dieses Mal sind auch die noch gebilligten Maßnahmen konkret genug benannt, weil in der Verfügung steht, dass bei dauerhafter Bewusstlosigkeit die Behandlung und Pflege „auf die Linderung von Schmerzen, Unruhe und Angst gerichtet“ sein soll. Alles weitergehende – also auch eine künstliche Ernährung – ist von dieser Erlaubnis nicht erfasst. Dieses Zusammenspiel von zutreffender Situationsbeschreibung und Benennung von Maßnahmen, die dann noch gewünscht werden, reicht.
Der BGH warnt vor überzogenen Anforderungen. Es genüge, wenn die Situation umschrieben ist, in der bestimmte Maßnahmen durchgeführt oder unterlassen werden sollen. Weder müsse der Betroffene vorausahnen, welche Krankheiten er künftig erleiden wird, noch muss er Entwicklungen in der Medizin vorwegnehmen. Daher kann eine Patientenverfügung nie so konkret sein, wie die Einwilligung in eine aktuell anstehende Behandlungsentscheidung (BGH 2017, Rn. 19).
Auch Verfügungen, die für den zu entscheidenden Fall zu unkonkret sind, haben Wirkung. Dann dienen sie zusammen mit anderen Äußerungen zur Feststellung, ob ein Behandlungswunsch oder mutmaßlicher Willen erkennbar ist. Gegebenenfalls lässt sich zusammen mit anderweitigen schriftlichen oder mündliche Äußerungen der Behandlungswunsch ableiten. Im zuletzt geschilderten Fall war bekannt, dass die Patienten nach ihrem Schlaganfall schon sagte „ich möchte sterben“. Erst danach fiel sie ins Wachkoma. Auch war bekannt, dass sie die Situation einer Person, die sich in vergleichbarer Lage befand wie sie selber jetzt, mit den Worten kommentierte: „So will ich nicht sterben“. Solche Äußerungen helfen weiter – egal ob in einem Brief geschrieben oder im Beisein möglicher Zeugen gesagt. Je aktueller ein Behandlungswunsch geäußert wurde, je konkreter er auf die Behandlungssituation passt und die Vorstellungen des Patienten erkennen lässt, um so höher ist die Bindungswirkung. Auf den mutmaßlichen Willen des Betroffenen wird abgestellt, wenn weder ein Patientenwille noch ein ausreichend konkreter Behandlungswunsch feststellbar ist. Maßgeblich sind dann auch ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betroffenen, die er mündlich oder schriftlich äußerte. Aus diesen Erkenntnisquellen stellt der Bevollmächtigte eine Vermutung auf, wie der Betroffene wohl selbst entschieden hätte, wenn er noch selbst bestimmen könnte.
Letztlich aber bleibt: Wenn es trotz Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung nicht gelingt, Behandlungswunsch oder - willen festzustellen: Im Zweifel für das Leben – so auch BGH 2016, Rn. 37.