Immer mehr Ärzte müssen sozial schlechter gestellte Patienten versorgen. Bei vielen stellt sich die Frage: Macht die Armut selbst krank? Eine Publikation im Schweizer Fachblatt "PrimaryCare" zeigt jetzt einen neuen Weg auf. Die Selbstmotivation des Patienten über den Hausarzt könnte die Therapie stark unterstützen.
"Sozioökonomische Faktoren sind für Gesundheit und Krankheit viel wichtiger als Cholesterinspiegel oder Hypertonie", schreibt der Basler Arzt und Autor der Veröffentlichung, Joël Cuénod, und:"Allgemein geht man davon aus, dass sich mit der Förderung der "Self Efficacy" (Selbstwirksamkeitserwartung) eine bessere Patientencompliance bei der Behandlung von Risikofaktoren erreichen und Risikoverhalten, wie es bei Patienten in ungünstigen sozialen Verhältnissen gehäuft vorkommt, günstig beeinflussen lässt". Wann aber gilt der Patient als bedürftig? Und überhaupt: Gleicht Schweizer Armut beispielsweise jener in Tanzania, Brasilien oder gar den USA? Ob ein Mensch in der Schweiz als arm gilt, verrät eine vom Bundesamte für Statistik (BFS) festgelegte Grenze: Sie beträgt im Durchschnitt rund "2200 Franken für Alleinstehende, 3250 Franken für eine allein erziehende Frau mit einem Kind und 4650 Franken für ein Ehepaar mit zwei Kindern".
Wer als Arzt die Self Efficacy seiner Klientel voranbringen möchte, muss mehr wissen. Denn Faktoren wie wirtschaftliche Entwicklung, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe und Armut stehen ökonomisch betrachtet in einem komplexen Zusammenspiel – und wirken sich direkt auf den Gesundheitszustand der Patienten aus. Dass die negativen Effekte der Arbeitslosigkeit sogar die Lebenserwartung der Betroffenen massiv senken fanden deutsche Gesundheitsforscher heraus: Sie liegt bei Arbeitslosen im Schnitt sieben Jahre unter der von Beschäftigten. Die Zusammenhänge dürften auch Schweizer Ärzte aufhorchen lassen: Arbeitslose Männer verbringen mehr als doppelt so viele Tage im Krankenhaus wie berufstätige; bei arbeitslosen Frauen sind es 1,7 Mal so viele. Besonders krass treten die Unterschiede zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten bei der Betrachtung der psychiatrischen Erkrankungen zutage. In diesem Zusammenhang suchen arbeitslose Männer acht Mal häufiger fachliche Hilfe auf; arbeitslose Frauen 3,6 Mal. Die über drei Jahre laufende Untersuchung der deutschen Gmünder Ersatzkasse (GEK) hatte die Ergebnisse auf 100 000 Mitglieder hochgerechnet.
Die Unterschiede sind beträchtlich:
"Armut erhöht das Risiko – von Karies bis Aids", konstatierte auch der am Institut für Soziologie in Basel lehrende Professor Ueli Mäder bereits im Jahr 2007 in der Fachzeitschrift "Schweizerisches Medizin Forum". Ob solcher Indizien verwundert es nicht, dass die Schweiz reagiert. Am Institut für Allgemeinmedizin der Universität Zürich beispielsweise läuft derzeit ein Forschungsprojekt über Armut und Gesundheitsversorgung, an dem auch praktizierende Ärzte beteiligt sind.
Warum aber Armut den Hormonhaushalt des Körpers durcheinanderwirbelt, lässt sich nur ansatzweise erklären. Das „Schema der neuro-endokrinen Kopplung durch Sympathikus und das hypothalamico-hypophysäre System bei Stress“ etwa verrät exemplarisch, wie Stressoren über Amygdala, Hypothalamus oder Hypophyse ihren unheilvollen Weg einschlagen, um am Ende Stressreaktionen und psychosomatisch bedingte Erkrankungen auszulösen.
Um solchen Mechanismen entgegenzuwirken, setzen Ärzte auf die Kraft der Selbstmotivation. So gilt eine seit 20 Jahren etablierte und von der FU Berlin veröffentlichte Skala der Allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung (SWE) nach wie vor als wichtiges Tool, Patienten die eigene Power vor Augen zu führen. Die medizinische Therapie, schreibt der Basler Cuénod aber auch, bleibt zwar der entscheidende Erfolgsfaktor, nur: Erst die Aktivierung der Hoffnungsmolekeln bringt die Sache richtig in Schwung. Punkt 10 der Berliner Self Efficacy Skala jedenfalls behält auch außerhalb der Praxis seine Gültigkeit: „Wenn ein Problem auftaucht, kann ich es aus eigener Kraft meistern“.