Wer kennt ihn nicht, den typischen Medizinstudenten? Er kommt aus gutem Hause und legt Wert auf Aussehen und gehobenen Lebensstil - oder ist er doch eher ein ehrgeiziger Streber, der seine Tage am Schreibtisch verbringt? Wir haben den Blick von außen gewagt und Nicht-Mediziner befragt.
Zielstrebig, lerneifrig, dauergestresst und ehrgeizig. Haare voller Gel, Dauergrinsen und bloß kein Fleck auf dem weißen Poloshirt. Jeder weiß doch, wie er aussieht, der typische Medizinstudent. Wie aber werden wir tatsächlich wahrgenommen, wie nehmen wir uns selbst wahr? Eine Stichprobe aus dem Münchner Unialltag.
Auswendiglernen statt denken
"Wir sind alle viel zu brav!", beklagt sich eine Münchner Studentin im zweiten vorklinischen Semester und sieht mich ratsuchend an. "Gib uns einen Fetzen Papier und wir lernen auswendig, was drauf gedruckt steht", fügt sie mit einem gequälten Grinsen hinzu und ich verstehe, was sie meint. Lerneifer. Wer ihn nicht hat, geht im Medizinstudium unter, bekommt unter Umständen gar nicht erst den Studienplatz.
Ob im positiven Sinne und mit anerkennend heruntergezogenen Mundwinkeln oder im negativen Sinne mit einem mitleidsvollem, überlegenen Geisteswissenschaftlergrinsen – kaum einer der für diesen Artikel Befragten würde dem "typischen" Medizinstudenten diese Eigenschaft nicht zugestehen. "Stimmt schon, Medizinstudenten sind Lernmaschinen", sagt Avi, eine Studentin der Musikwissenschaften in München wie aus der Pistole geschossen. "Nur glaube ich, dass sie überm Lernen häufig das Denken vergessen."
Nachdenklich kratze ich mich am Kopf. Ursprung, Ansatz, Innervation. Was gibt es denn da groß nachzudenken? Ist die Anatomie der Vorklinik so etwas wie eine Massenverblödung von eigentlich ganz klugen Köpfchen, die einem Fünftklässler jedoch nur durch einen weißen Präparierkittel und ein paar Zentimeter Körpergröße voraus sind? Nein, versuche ich mich zu beruhigen, ein kleines bisschen Grips war schon nötig, um die Sache mit den Herzklappen oder die Zugänge zur Bursa omentalis nachvollziehen zu können.
"Ich kenne viele Medizinstudenten, die musikalisch extrem begabt sind", fährt Avi fort und ich fühle mich geschmeichelt, zumal meine letzte Klavierstunde schon fast sieben Jahre zurückliegt. "Das liegt bestimmt daran, dass Medizinstudenten auch hier extrem ehrgeizig sind und wie verrückt üben", meint Avi und dämpft meine frisch aufkeimende Euphorie. Naturtalente vermutet unter Medizinstudenten offenbar niemand.
Das Arzt-Söhnchen
Mein nächster Gesprächspartner, angehender Griechischlehrer vom alten Schlag, macht mir Mut. "In meiner Bekanntschaft sind schon ein paar, die Medizin aus Menschenliebe studieren", formuliert er vorsichtig. "Aber viele machen das ja auch, weil schon der Vater Arzt war. Die meisten kommen ja sowieso aus gehobenem Elternhaus", stellt er fest und spricht damit aus, was mir bereits am ersten Studientag bewusst geworden ist: Handtasche von Prada, Poloshirt von Lacoste, Altbauwohnung in Schwabing und ein Audi A3 in der Parkgarage – auffallend viele Medizinstudenten leisten sich einen gehobenen Lebensstil, um es einmal zurückhaltend auszudrücken. Papa ist ja Arzt, der zahlt schon.
Oder doch der bescheidene Idealist?
Moment, denke ich mir, habe ich da etwas verpasst? Mediziner, die sich eine goldene Nase verdienen – ist das nicht alles Schnee von gestern? "Früher haben sich Freunde von mir, die Medizin studierten, in ihrem Verhalten viel schneller als angehende Doktoren gegeben", sagt Gabriela, Angestellte in einem Münchner Verlagshaus und Mutter einer Medizinstudentin. "Sympathisch ist mir heute, dass es bei vielen offenbar eine neue Bescheidenheit eingekehrt ist. Viele sind sich dessen bewusst, dass Kohle und Karriere woanders schneller zu holen sind und studieren Medizin aus reinem Idealismus oder zumindest, weil sie sich soziale Anerkennung im Beruf erhoffen." Das ist Balsam für meine gestresste Vorkliniker-Seele. Offenbar trauen einige den angehenden Medizinern doch noch ein bisschen mehr zu als gekonntes Haar-Styling und stures Auswendiglernen.
Innerlich jedoch kann ich mir das Grinsen nicht verkneifen: Einige Klischees sind erstaunlich wahr, denke ich mir, streife nach getaner Arbeit mein weißes Poloshirt ab, koche mir einen Anti-Stress-Tee und bemühe mich, ihn nicht auf die vielen aufgeschlagenen Büchern auf meinem Schreibtisch zu verteilen.