Die Spaltung in Schul- und Alternativmedizin, in Spezialisten und Generalisten und nicht zuletzt der Einfluss "medizinfremder" Stellen mit Entscheidungsgewalt verwandele Schweizer Ärzte zum Auslaufmodell der Moderne ohne weiteren gesellschaftlichen Einfluss. Das harte Fazit eines Beitrags, den ein Schweizer Arzt jüngst veröffentlicht hat.
Schon wenige Zeilen der Lektüre offenbaren: Die Betrachtungen des am Universitäts Spital Zürich lehrenden Direktors der Kardiologie, Thomas Lüscher, in der aktuellen Ausgabe des Fachblatts "Cardiovascular Medicine" sind provokativ und zeigen neue Wege für den Berufsstand der Mediziner auf – gerade deswegen erweisen sie sich als durchaus lesenswert. „Was es zu untersuchen und verordnen gilt, kann der heutige Arzt kaum noch frei entscheiden, will er sich nicht mit den zahllosen nichtärztlichen Entscheidungsträgern, die heute des Gesundheitswesen bestimmen, anlegen – kurz, er wird vom selbstständigen Gestalter zum gelenkten Vollstrecker einer gesamtgesellschaftlich verordneten Medizin“, resümiert Lüscher die Crux der Mediziner in der Schweiz.
Das, so erfahren die Leser der ungewöhnlichen Abhandlung, war nicht immer so. Der Franzose René Théophile Hyacinthe Laënnec etwa hörte aus Ekel vor seinen verschwitzten Tuberkulosepatienten deren Lunge mit einer Papierrolle ab. Was heute kaum denkbar erscheint, führte bekanntlich zu jenem Stethoskop, das Ärzte weltweit noch heute einsetzen.
Ganz ohne Normen und Vorschriften dürfte auch eine weitere Errungenschaft das Licht der Welt erblickt haben, wie Lüscher zu berichten weiß: „Andreas Grüntzig schließlich war es vielleicht als Letztem in Zürich vergönnt, ohne den Ratschluss eines ethischen Komitees und ohne Unterstützung durch den Schweizerischen Nationalfond – dessen Rat der Weisen sein Ansinnen zunächst ablehnte –, einen heroischen Ersteingriff zu machen, der die Medizin verändern sollte“.
Tatsächlich führte Grüntzig nach der Erfindung des Ballonkatheters für periphere Arterien im Jahr 1974 am 16. September 1977 erstmals eine erfolgreiche Ballondilatation zur Aufdehnung verengter Herzkranzgefäße in Zürich durch. Dabei dehnte er im Rahmen einer Herzkatheteruntersuchung ein um etwa 80 Prozent verengtes Stück des Vorderwandastes des Herzens mit einem in das Gefäß eingeführten Ballon auf, stellte die normale Durchblutung wieder her - und ersparte auf diese Weise dem Patienten eine Bypassoperation. Noch nach zehn Jahren zeigte sich bei Kontrolluntersuchungen die erweiterte Engstelle offen.
Allein das wäre lediglich ein Fall für die Chronisten der Medizingeschichte, doch Lüscher beleuchtet einen völlig neuen Aspekt. Es geht um das Verhältnis des Arztes zum Patienten, es geht um die Eigenverantwortung des Mediziners ohne Zwang, Verordnung oder gesundheitspolitischer Indoktrination. Die Geburtsstunde der Ballondilatation erfolgte womöglich aus einem schlichten, durchaus menschlichen Grund: „Das mündliche Einverständnis des ersten Patienten Adolf Bachmann und seine Zuversicht, dass sein Arzt sein Wohl im Auge hatte, waren damals genug“.
Politik, Gremien und Institutionen: Unheilvolle Bremsen für den Arzt?
Und heute? „Was uns therapeutisch zur Verfügung steht, haben vorgängig die SwissMedic, die Eidgenössische Leistungskommission oder das entsprechende Bundesamt und zuletzt die Krankenkassen festgelegt“, kritisiert Lüscher, und: „In ihren Entscheidungen haben sie sich in der Regel auf internationale Guidelines bedeutender Gesellschaften, auf Systematic Reviews selbsternannter Experten, Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, auf das National Institute of Clinical Excellence des Vereinigten Königreichs oder ihr Bauchgefühl (gemeinhin common sense genannt) gestützt“. Lüscher startet, so viel steht fest, einen Frontalangriff auf die Etablierten – und legt nach. Was in der Schweiz vergütet werde, müsse „erst von der Eidgenössischen Leistungskommission bewilligt und zuletzt von den Krankenkassen anerkannt werden, bevor der praktisch tätige Arzt eine Vergütung erwarten kann – der Preis ärztlichen Handelns wurde bestimmend“.
Man muss Lüschers Meinung nicht in allen Punkten teilen, und wer in Notfallkliniken arbeitet oder Krebspatienten betreut, wird den Wert von Guidlines durchaus zu schätzen wissen, nur: Die Entscheidungsfreiheit des Arztes, lässt uns Lüscher schnell erkennen, liegt nicht mehr in seiner Hand. „Selbst die Politik fühlt sich heute berufen, das Richtige in der Medizin zu verkünden“, moniert der Kardiologe – und betont, dass kaum ein Politiker jemals als praktizierender Arzt am Krankenbett gestanden habe.
Ob Forschung – „Kafka hätte seine helle Freude gehabt“ – oder Multizentrenstudien, kaum ein Bereich der modernen Medizin bleibt von Lüschers Brachialkritik verschont. „Ob all diese Regulierungen irgendeinem Patienten etwas nützen oder nicht, vielmehr den Juristen, Politikern und Gesetzgebern ein Arbeitsfeld verschaffen, sei dahingestellt – die zukünftige Medizin behindern sie allemal“, erfährt der Leser – als Nichtmediziner dürfte er dabei noch schmunzeln, als Arzt tritt mitunter wohl leise und heimliche Zustimmung ein.
Kritik allein indes bleibt Lüschers Sache nicht, im Gegenteil. Die genaue Analyse des Status Quo von mehr als 20.000 Schweizer Ärzten lässt den Mediziner einen positiven Ausblick geben. Eine geeinte Ärzteschaft, meint Lüscher, könne der Armada der Regulierer widerstehen – der Hausarzt, so beschreibt der Autor ein mögliches Szenario, sollte wieder mehr in Eigenregie arbeiten dürfen. So, wie es in der Schweiz vor langer Zeit ohnehin üblich war.