Die lange in Vergessenheit geratene Tuberkulose ist mit den Einwanderern wieder verstärkt nach Deutschland gekommen. Da sie schleichend beginnt, sind die Symptome am Anfang nicht eindeutig und somit schwer zu diagnostizieren. Ärzte sollten die Krankheit auf dem Schirm haben.
„Drei Monate lang lief ich von einem Arzt zum nächsten. Sie haben auf alles Mögliche getippt, es gab endlose Untersuchungen, doch niemand fand heraus, was ich habe“, sagt Sandra Bollinger. „Schließlich brachte eine Bronchoskopie die Wahrheit ans Licht. Es war TB, Tuberkulose.“ Bollinger zählte damals nicht zur Risikogruppe, war weder alkohol- noch drogenabhängig, rauchte nicht, kam nicht aus einem Land mit häufiger TB. Sie war 27 Jahre alt, Studentin der Soziologie in Hamburg, hatte weder Kontakt zu Kranken noch eine Reise ins Ausland unternommen, ihr Gesundheitszustand war gut. Und: es war 1994. Eine Zeit, in der die Tuberkulose oder Schwindsucht in Deutschland als nahezu ausgestorben galt. Heute ist das anders. Die Zahlen steigen seit Jahren, von 4.325 Patienten im Jahr 2013 und 4.533 im Jahr 2014 auf zuletzt 5.915 Fälle im Jahr 2016, wie das Robert-Koch-Institut (RKI) kürzlich bekanntgab. Grund dafür ist die Tatsache, dass die Krankheit in den Herkunftsländer von Migranten aus Asien, Afrika und Osteuropa weiter verbreitet ist als hierzulande. Und auf diesem Weg wieder in Deutschland ankommt. Damit die Fälle von erkrankten Einwanderern gleich nach der Einreise erkannt und behandelt werden können, zählt mittlerweile ein Gesundheitscheck zum Standard für Flüchtlinge. Die Zahl von TB, die so diagnostiziert wurde, betrug laut RKI im Jahr 2015 1.255 Fälle. Im Jahr 2014 waren es 425, gut doppelt so viele wie 2013 mit 198 Fällen.
Insgesamt sind diese Zahlen noch immer gering, sagt Nicolas Schönfeld, Oberarzt an der Klinik für Pneumologie am Helios-Klinikum Emil von Behring in Berlin. Hier werden viele Tuberkulose-Kranke über Monate behandelt, ein Trakt ist reserviert für die noch ansteckenden Patienten. Zwei junge Männer mit Mundschutz holen sich Getränke von einem Rollwagen, an den Zimmertüren hängen Warnschilder und Piktogramme zum Umgang mit Infizierten. „Der Anstieg ist im Grunde nicht hoch“, sagt Schönfeld. „Wir müssen immer bedenken, von welchem Ausgangswert wir diese Veränderung betrachten. Wenn wir zehn Jahre zurückschauen, dann ist da zur jetzt gestiegenen Inzidenz insgesamt kein Klassenunterschied. Das ist alles nicht so dramatisch.“ In fast allen Bundesländern ist die Zahl der Erkrankungen gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Einzige Ausnahme: Mecklenburg-Vorpommern © RKI Dennoch ist die Tuberkulose eine Erkrankung, die es in Deutschland wieder gibt, und mit der Ärzte rechnen müssen. Da sie schleichend beginnt, sind die Symptome vor allem am Anfang nicht eindeutig und somit schwer zu diagnostizieren. „Ich hatte Husten und war verträumt“, sagt Bollinger, „ich hatte diese klassischen Zustände, wie Franz Kafka oder Thomas Mann es beschrieben haben. Du lebst wie in Trance. Es kommt schleichend. Du merkst nicht, wie du immer müder wirst und matt, du bist ein bisschen wie auf Droge.“
Zum Nachweis einer latenten tuberkulösen Infektion empfiehlt das RKI einen Tuberkulin-Hauttest (THT) mittels Mendel-Mantoux-Methode und einen Interferon-Gamma-Test. Entscheidend ist jedoch das Röntgenbild, sowohl zur Erkennung als auch zur Beurteilung des Verlaufs während der Behandlung. Hier zeigen sich auffällige Flecken als Zeichen von Entzündungsherden und den typischen Kavernen. Schließlich erfolgt der Nachweis des Erregers aus einer Reihe bakteriologischer Laboruntersuchungen wie Magensaft, Liquor und Urin sowie Bronchial- oder Trachealsekret. Je nach Lokalisation können auch andere Biopsie- oder Punktionsproben genommen werden. Ein Problem ist der Mangel an Bewusstsein: Betroffene und Ärzte haben keine Erfahrung mit TB und kommen weder auf die Idee, dahingehend zu untersuchen, noch sind sie entsprechend ausgestattet. Hinzu kommt, dass sich die Krankheit nur schleichend bemerkbar macht. Lange bevor Symptome wie Husten, Nachtschweiß, Fieber und Gewichtsverlust auftreten, fühlen sich Patienten noch fit. Niemand merkt, dass sie krank sind. Die Ansteckungsgefahr ist übrigens nicht sehr hoch - zwar wird TB über Tröpfchen übertragen, doch man muss schon mehrere Stunden in einem geschlossenen Raum zusammen sein, um sich zu infizieren. Eine Ansteckung im Bus oder an der Kasse gibt es nicht.
Tuberkulose kommt überraschend: Schätzungen zufolge ist rund ein Drittel der Weltbevölkerung mit dem Bakterium infiziert, doch nur bei etwa zehn Prozent bricht die Krankheit tatsächlich aus. Der stäbchenförmige Erreger namens Mycobacterium tuberculosis schlummert eingekapselt im Körper, bis dessen Immunsystem unter Stress schwächelt, beispielsweise durch eine Erkrankung oder der körperlichen Anstrengungen einer Flucht. Auch Bollinger hat eine Erklärung: „Bei mir kam damals viel zusammen. Ich habe sehr viel gearbeitet, schlecht geschlafen und schlecht gegessen. Mein Vater war gestorben, ich war insgesamt sehr geschwächt.“ Im Süden und im Osten häufen sich die Fälle von TBC-Kranken, die im Ausland geboren wurden. Die Aufteilung in NUTS-Regionen ist eine europäische Systematik zur statistischen Erfassung von Regionen © RKI Einmal ausgebrochen, verläuft die Krankheit, nicht oder falsch behandelt, letal: TB zählt heute mit HIV und Malaria zu den häufigsten tödlichen Krankheiten der Welt. Jedes Jahr infizieren sich rund 10 Millionen Menschen neu, allein 2015 starben 1,8 Millionen Menschen. Doch nicht überall: Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) erkrankten 60 Prozent der Patienten 2015 in China, Indien, Indonesien, Nigeria, Pakistan und Südafrika. Auch Russland und ehemalige Sowjet-Republiken wie Tschetschenien und die Ukraine sind besonders betroffen.
Der Zugang zu Medikamenten ist in vielen Ländern schwierig, und die Therapie dauert lange. Die Standardtherapie ist eine Gabe von vier verschiedenen Antibiotika über zwei Monate und zwei Antibiotika über noch einmal vier Monate. Bei richtiger Behandlung liegt die Heilungsrate heute bei 90 Prozent, abhängig vom Gesundheitszustand des Patienten. Besorgniserregend sind jedoch die seit Jahren ansteigenden Fälle von Resistenzen, also Bakterien, die mit den bekannten Antibiotika nicht zu behandeln sind. Auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke antwortete die Regierung kürzlich, sie sähe in der Vermeidung von Resistenzen und der Entwicklung neuer Antibiotika ein wichtiges Element jeder Anti-Tuberkulose-Strategie, die unter anderem auf der Agenda für den G20-Gipfel stünde. Bisher hat Deutschland rund 10 Millionen Euro in einen der weltweit vielversprechendsten neuen Impfstoffkandidaten gegen TB gesteckt. Derzeit stellt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) weitere 850.000 Euro in den Kandidaten VPM1002, sieht jedoch keine Zulassung durch die europäischen Arzneimittelagentur (EMA) innerhalb der kommenden fünf Jahre.
„Wir haben mit der Tuberkulose viele Probleme“, sagte Sébastien Gagneux, Mikrobiologe an der Universität Basel: „Sie ist eine komplizierte Krankheit einerseits, auf der anderen Seite sind die Methoden, die wir zur Verfügung haben, extrem veraltet. Ein Beispiel ist die Diagnosemethode. Sie ist mehr als 100 Jahre alt und die gleiche, die schon Robert Koch angewendet hat.“ Auch die Medikamente selbst seien über 50 Jahre alt. „Es gibt einen Impfstoff, der ist über 90 Jahre alt und funktioniert leider nicht richtig“, so Gagneux. „Ein anderer Punkt ist, dass die Behandlung sehr lange dauert.“ Patienten müssten sechs Monate einen Cocktail von mindestens vier Antibiotika nehmen, also einen Haufen Pillen schlucken, jeden Tag, über eine lange Zeit. „Es gibt zwei Möglichkeiten, wie sich Resistenzen entwickeln. Die eine ist, es passiert während der Behandlung eines Patienten“, erklärt der Mikrobiologe. Es kann damit zu tun haben, dass die Antibiotika eine schlechte Qualität haben, dass die Dosis nicht stimmt oder dass der Patient nicht alle Pillen schluckt, die er eigentlich schlucken müsste in der Zeit von sechs Monaten. Ein anderes Szenario sei, dass ein Patient resistente Bakterien habe und diese direkt auf einen anderen übertrage.
„Resistente Bakterien sind genauso ansteckend, in gewisser Weise sogar noch etwas stärker ansteckend, als empfindliche Tuberkulose-Bakterien“, sagt Schönfeld. Problematisch sei, dass es alle möglichen Formen der Resistenz gebe auch Mehrfach-Resistenzen: „Wenn die Bakterien resistent sind gegen die beiden wichtigsten Medikamente in der Tuberkulosetherapie, das Isoniazid und das Rifampicin, so spricht man von der Multiresistenz. Sie kann aber durchaus auch mehr Medikamente umfassen“, so Schönfeld. „Sind noch zwei andere wichtige Substanzgruppen in die Resistenz mit einbezogen, so sprechen wir von der extensiven, so genannten XDR-Resistenz.“ Jeder Patient mit einer resistenten Tuberkulose habe wahrscheinlich einen eigenen Bakterien-Stamm und ein individuelles Resistenzmuster, insofern sei jede Behandlung auch individuell. Dies betreffe auch die Isolation: „Es gibt Menschen, die sind gar nicht ansteckend, und andere, die in Einzelfällen bis zu drei Monate und länger ansteckend sein können“, sagt der Pneumologe. Allerdings gebe es in Deutschland genügend fachliche Expertise und genügend Institutionen, „um das gut zu managen.“ Bollinger musste nur zwei Wochen in Quarantäne bleiben: „Danach war ich nicht mehr ansteckend und konnte mich im Krankenhaus frei bewegen, rausgehen und spazieren gehen.“ Wie sie sich angesteckt hat, weiß sie bis heute nicht. Sie arbeitete nebenbei in einem Altenheim und vermutet, dass es dort geschah, denn die Krankheit bricht oft bei älteren, geschwächten Menschen aus. Und: „Viele Verwandte meiner Großmutter sind in den zwanziger Jahren an Tuberkulose gestorben. Es gibt auch eine erbliche Disposition.“