Die Nachricht erreichte die Ticker als Sensation: "Das Protein ADAM10 kann die Bildung des für die Alzheimer-Erkrankung typischen Beta-Amyloids verhindern". Die schlechte Nachricht ist: Die Amyloid-Plaques korrelieren gar nicht mit der Schwere der Erkrankung.
Tatsächlich ist der erste Eindruck der Münchner Ergebnisse ermutigend. Denn den Wissenschaftlern gelang der Bau einer als Alpha-Sekretase bezeichneten molekularen Schere, die das Amyloid-Vorläuferprotein (APP) ohne die Bildung von Beta-Amyloid spaltet. Auf diese Weise, so die hoffnungsvolle Theorie, ließe sich Alzheimer womöglich bezwingen bevor die Krankheit überhaupt entsteht. „Das Hauptziel vieler Alzheimer-Therapien besteht daher darin, die Bildung von Beta-Amyloid zu verhindern“, ließen die Wissenschaftler unzählige Medien wissen und betonten den Grundpfeiler der neuen Offensive: Man mache sich zunutze, dass das Beta-Amyloid selbst aus dem sogenannten Amyloid-Vorläuferprotein (APP) ausgeschnitten wird – um mit Hilfe molekularer Scheren aus dem Vorläuferprotein unterschiedlich große Stücke herauszuschneiden. Die Strategie, die neben der LMU auch andere Forschungseinrichtungen weltweit praktizieren, scheint klar: „Die Blockade dieser Scheren führt dazu, dass das Beta-Amyloid nicht mehr gebildet wird“.
Keine Plaques, kein Gedächtnisverlust?
Genau dieses Dogma aber gerät zunehmend in Wanken. Im Februar dieses Jahres nämlich veröffentlichte das Fachblatt Lancet Neurology die Arbeit eines finnischen Forscherteams vom Turku University Hospital, das mit Hilfe des molekularen Markers PIB die Plaques lebender Patienten im PET sichtbar machte. Allein das wäre weder neu, noch spektakulär, denn diese von William Klunk und Chester Mathis an der University of Pittsburgh entwickelte Plaques-Visualisierungsmethode ist seit geraumer Zeit weltweit im Einsatz. Allerdings wollten die Finnen um Juha O. Rinne wissen, ob der bei Alzheimerpatienten eingesetzte Wirkstoff Bapineuzumab (b-mab) die Plaques tatsächlich zerstörte. Erwartungsgemäß räumte die Substanz im Hirn der Patienten auf: Über einen Beobachtungszeitraum von 18 Monaten gingen bei den mit b-mab Behandelten die Beta-Amyloide um 25 Prozent zurück. Nur: Die Demenz setzte sich trotz Wirkstoffzugabe genauso ungebremst fort wie in der Placebogruppe. Das Medikament, so die nüchterne Erkenntnis der Mediziner, verhielt sich zwar nach Plan und machte den Plaques den Garaus – was aber die Erkrankung an sich nicht stoppte.
Beta-Amyloid als Demenzmacher hat ausgedient
Dass die Menge an Beta-Amyloid Plaques mit dem Stadium der Demenz nicht korrelieren, wurde während der letzten beiden Jahrzehnte lediglich hinter vorgehaltener Hand erwähnt. Noch heute gilt das Dogma, wonach große Ablagerungen von Beta-Amyloid zu den Alzheimer-Symptomen führen. Dass aber schon Vorläuferproteine eine weitaus wichtigere Rolle spielen und womöglich noch ganz andere Effekte einsetzen, dringt erst jetzt ins Bewusstsein vieler Alzheimerforscher.
„Viele Menschen haben Plaques in ihrem Gehirn, aber entwickeln keine Demenz“, erklärt der am University College Dublin forschende Neurobiologe Dominic Walsh die Crux mit dem Beta-Amyloid. Man kann es auch direkter formulieren: „Für jene, die 20 Jahre lang an der Amyloid-Plaques Theorie arbeiteten ist es hart zu erkennen, das sämtliche aus dieser Theorie hervorgegangenen Arzneimittel in klinischen Studien der Phase II oder III gescheitert sind“, sagt die Forschungschefin der UK Alzheimer Society, Susanne Sörensen. Die Versprechungen der Hersteller sind, juristisch betrachtet, durchaus korrekt – die Mittel verringern die Plaque-Konzentration im Gehirn der Patienten signifikant. Lediglich die therapeutische Wirkung, so Sörensen, sei in keiner einzigen klinischen Studie nachgewiesen worden.
Zusammenhang zwischen Proteinkonzentration und Demenzgrad
Nachweisen lässt sich hingegen ein weiterer Effekt. Neben Beta-Amyloid lagern sich auch so genannte Tau-Proteine im Gehirn der Alzheimerpatienten an. Anders als bei den Beta-Amyloiden scheint es jedoch einen direkten Zusammenhang zwischen Proteinkonzentration und Demenzgrad zu geben. Allerdings ist Beta-Amyloid damit noch lange nicht aus dem Spiel, wie eine mittlerweile populär gewordene Publikation im Fachblatt Science bereits vor neun Jahren erahnen ließ: Der Demenzauslöser Tau wird erst durch seinen „Verwandten“ Beta-Amyloid auf Trab gebracht. Viele Thesen, kaum Wirkstoffe.
Für die Basler Professorin Anne Eckert steht heute fest, dass außerhalb der Nervenzellen Plaques um einen Amyloid-Kern und innerhalb der Zellen Bündel von abnormalem Tau-Protein auftreten. Eine Neuro-Gruppe um Samuel Gandy von der Mount Sinai School of Medicine wiederum brachte über das Fachblatt Annals of Neurology den Beleg, dass bestimmte Oligomere, Vorläuferprodukte der Plaques, bei Mäusen Demenz auslösen können.
Ein Gehirn ohne Plaques, so scheint es, kann bei Vorhandensein der Oligomer-Moleküle dennoch degenerieren. Allerdings ist auch diese These nicht frei von Makel. Denn die Moleküle wurden bislang weder bei lebenden Patienten, noch im Gehirngewebe Verstorbener direkt nachgewiesen – sie lassen sich erst durch Isolation und aufwändige biochemische Arbeitsschritte erkennen. Über die eigentlichen und genauen Zusammenhänge der Alzheimererkrankung scheint man somit im Jahr 2010 ebenso wenig zu wissen wie vor 20 Jahren – nämlich nichts wirklich Genaues.
Selbst die neueren Hoffnungsträger, beispielsweise Gamma Sekretase Inhibitoren, die die Bildung der Plaques von Beginn an verhindern sollen, scheiterten bisher in der klinischen Anwendung. Das Ende der klassischen Alzheimer-Therapie lässt sich auch so attestieren: Lediglich ein solches Präparat befindet sich nach Angaben des britischen Wissenschaftsmagazins New Scientist derzeit noch in der kritischen – und entscheidenden – Phase III Studie.