Chronische Schwermut trifft jeden anders. Warum und wie Depressionen zuschlagen, hängt von Genen, traumatischen Ereignissen oder dem Geschlechtschromosom ab. Ob es die männliche und die weibliche Depression gibt, darüber streiten sich die Experten.
120 Millionen Kranke sind es weltweit, sagt die WHO. Entsprechend den amerikanischen Zahlen sind rund 19 Prozent der US-Bürger betroffen, bei uns leidet jeder achte irgendwann in seinem Leben einmal an einer Depression.
Frauen: Mehr Patientinnen, weniger Selbstmorde
Aber Frauen leiden ganz anders als Männer. Frauen sind traurig, antriebslos und niedergeschlagen, depressive Männer nicht selten rücksichtslos und leicht reizbar. „Frauen suchen Hilfe, Männer sterben“, überschreibt etwa Armand Hausmann von der Psychiatrischen Universitätsklinik in Innsbruck einen Artikel für die Zeitschrift Neuropsychiatrie. Die Wahrscheinlichkeit für den Mann, sein Leben durch Selbsttötung zu beenden, liegt bei rund 1,5 Prozent, bei der Frau ist das Risiko „nur“ halb so groß. Dennoch sind etwa doppelt so viele Frauen von einer Depression betroffen. Woran liegt das?
Darüber streiten sich die Experten. Frauen gehen anders mit der Krankheit um als Männer. Sie sprechen darüber, während Männer ihren Gemütszustand als Zeichen der Schwäche gern verheimlichen. Männer nehmen im Laufe ihres Lebens nur halb oft wie Frauen medizinische Leistungen in Anspruch, sterben aber früher. Oder sind es physiologische Gründe? Typisch bei Frauen: Die prämenstruelle Depression oder die postpartale Schwermut, der „Baby-Blues“.
Testosteron schützt vor Depression - aber nur in der Pubertät
Amerikanische Forscher vom National Instiute of Health zeigten im Jahr 2003 mit transkranieller Magnetstimulation, dass Hormonschwankungen im weiblichen Zyklus auch Auswirkungen auf die Ausschüttung von Neurotransmittern wie GABA haben und damit den inneren Antrieb beeinflussen. Die depressiven Symptome beim Prämenstruellem Syndrom lassen sich somit auf eine veränderte Hirnchemie zurückführen. In der Kindheit begünstigt etwa ein GABA-Überschuss Fieberattacken. Ein hoher Testosteronspiegel stimuliert wiederum die Ausschüttung dieses Hormons. Im den ersten Lebensjahren liegt dann auch das Risiko für Depressionen bei Jungen sehr viel höher als bei Mädchen. In der Pubertät drehen sich dann die Verhältnisse um. Testosteron schützt nun eher vor depressiven Verstimmungen, während Östrogen die Cortisolausschüttung der jungen Frauen in die Höhe treibt. Schließlich beeinflusst das Sexualhormon auch die Spiegel von Serotonin. Fehlt es an diesem Botenstoff, tauchen typische Symptome einer Depression auf: Müdigkeit, aber auch Ängstlichkeit. Tracy Bale von der University of Pennsylvania konnte diese Erkenntnisse an weiblichen Mäusen demonstrieren. Testosterongaben schützten sie zuverlässig vor einem depressionsähnlichen Zustand - aber nur dann, wenn die Hormone heranwachsenden Tieren verabreicht wurden. Es kommt also nicht nur auf die Hormone selber an, sondern auch auf den richtigen Zeitpunkt.
Weil Männer den Gang zum Arzt scheuen, kommen deren Depressionen auch wohl seltener ans Tageslicht. Eines der viele typischen Beispiele ist der Tod des Fussball-Idols Robert Enke, der seine Krankheit bis zu seinem Selbstmord geheim hielt. Weil sich Männer anders über ihre Beschwerden äußern, wird es auch manchmal für den Arzt schwierig. Eine große Aufklärungsaktion unter Ärzten auf der schwedischen Insel Gotland vor etwa 20 Jahren konnte die Zahl der Selbstmorde dort deutlich senken. Jedoch zumeist nur bei Frauen. Viele Männer wurden einfach „übersehen“. Ein Ergebnis mit Folgen: Seit etwa einem Jahrzehnt wenden immer mehr Analysten die Gotland Male Depression Scale an, ein Leitfaden, der ganz speziell auf die Symptome der „männlichen Depression“ eingeht.
Therapie je nach Lebensphase
Aber nicht nur die Symptome unterscheiden depressive Männer von Frauen. Auch in der Therapie reagieren Frauen manchmal anders als ihr Gegenpart. Moderne Antidepressiva wirken bei Frauen öfter als bei Männern und dort vor allem bei Jüngeren. Bei Trizyklischen Antidepressiva finden die meisten Studien allerdings keinen Unterschied. Mindestens genauso wichtig wie das Geschlecht dürfte die Lebensphase des Patienten sein, für die der Arzt Antidepressiva verschreibt. Susan Kornstein aus Virginia stellte etwa fest, dass Frauen nach den Wechseljahren schlechter auf SSRI (Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer) reagieren als jüngere. Bei jenen wiederum scheinen besser Medikamente zu wirken, die es auf die Neurotransmitter Noradrenalin oder Dopamin abgesehen haben.
„Die männliche Depression äußert sich ... klinisch anders und untypischer als die klassische depressive Symptomatik“ sagen Armand Hausmann, Wolfgang Rutz und Ullrich Meise in ihrem Essay. Nicht überall wird diese Meinung geteilt. Depressionsexperte Ulrich Hegerl von der Uniklinik in Leipzig vermag im Gespräch mit DocCheck kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei schwer Depressiven erkennen. Dementsprechend sieht er auch bei den Therapieoptionen keinen Grund zur Geschlechtertrennung.
Sexualhormone und Psyche
Die unipolare Depression ist kein Einzelfall, wenn es um die unterschiedliche Ausprägung von Symptomen geht. Bei Bipolaren Störungen sind die Tiefs extremer und die Schwankungen bei Frauen häufiger. Eine Studie zeigte, dass bei etlichen Männern noch Defekte im Kurzzeitgedächtnis dazukommen, nicht aber bei Frauen. Auch bei der Schizophrenie sind kognitve Defizite bei Männern viel häufiger. Sie sind dann sehr oft apathisch, während Ärzte bei Frauen nicht selten übersteigerte Gefühlsausbrüche beobachten.
Die Liste ließe sich weiter fortsetzen: Autismus, ADHA oder der Konsum unterschiedlicher Drogen. Symptome und Reaktionen sind bei Männern oft anders als bei Frauen. Vieles hat mit unterschiedlicher Erziehung und Umwelt zu tun. Aber auch für Hirnforscher und Endokrinologen bleibt noch immer viel Arbeit. Die Einflüsse von Sexualhormonen auf die Psyche im zentralen Nervensystem ist noch weitgehend eine Black Box.