Viele Nerven, viele Beschwerden: Bei Polyneuropathien nehmen die Neuronen außerhalb vom Rückenmark Schaden. Patienten klagen über Missempfindungen wie Kribbeln und Taubheit. Ist die Ursache bekannt, lassen sich Therapien einleiten.
Polyneuropathien zählen nicht gerade zu den häufigen Erkrankungen: Wissenschaftler schätzen, dass sich unter 100.000 Menschen gerade einmal 40 Patienten befinden. Dabei gibt es große regionale Unterschiede durch die Standards in Ernährung, Hygiene und medizinischer Versorgung. Aber Polyneuropathie ist nicht gleich Polyneuropathie: Mit rund 34 Prozent aller Fälle gilt Diabetes mellitus als häufigster Auslöser, gefolgt von Alkohol (11 Prozent). Autoimmunerkrankungen und Infektionen mit Bakterien bzw. Viren sowie angeborene Formen der Polyneuropathie sind seltener. Aufgrund der Vielzahl von Mechanismen steht die Suche nach dem auslösenden Faktor an erster Stelle.
Wenn der Stoffwechsel außer Takt gerät
Ist der Blutzucker nicht richtig eingestellt, schädigt Diabetes mellitus nicht nur die Blutgefäße, sondern auch die Nerven. Eine diabetische Neuropathie ist dann unausweichlich – mit körperlichen und seelischen Qualen. „Diabetes und Schlafstörungen, Depression und Angststörungen, Energie- und Appetitlosigkeit bilden bei manchen Patienten ein psycho-internistisches Syndrom“, weiß Prof. Dr. Göran Hajak vom Regensburger Universitätsklinikum. Schüttet der Körper das Stresshormon Kortisol aus, belastet das die ohnehin schlechte Stoffwechsellage zusätzlich. Therapeutisch ist vor allem die Verbesserung der Blutzuckerwerte durch häufige Messungen und daran angepasste Insulingaben wichtig. Um aber den Teufelskreislauf aus Schmerzen und Stress zu durchbrechen, helfen zum Beispiel Antikonvulsiva und Antidepressiva. Bei neuropathischen Schmerzen empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Neurologie Duloxetin, Gabapentin, Pregabalin, Amitriptylin, Nortriptylin sowie Venlafaxin. Einer kanadischen Studie zufolge hat sich die Kombination von Nortriptylin und Gabapentin als besonders verträglich erwiesen. Diese Empfehlungen werden durch Opioide wie Tramadol und Oxycodon ergänzt. Bei gleicher Wirksamkeit ist Tapentadol, ein in Deutschland noch nicht zugelassenes Arzneimittel, weitaus verträglicher. Mit einer Zulassung rechnen Apotheker noch bis Ende des Jahres.
Bei Missempfinden in den Beinen und Nervenschmerzen schafft ein neues Therapieverfahren des Universitätsklinikums Heidelberg Abhilfe. „Wir halten die Muskelstimulation für eine effektive Therapie, die vielen Patienten helfen kann und sie wenig belastet. Insbesondere der günstige Effekt auf den Nachtschlaf sollte für eine Verbesserung der Lebensqualität bei den betroffenen Patienten sorgen“, betont Professor Dr. Peter Nawroth, der Ärztliche Direktor der Abteilung Endokrinologie und Stoffwechsel. Dabei reizen Ärzte die Muskulatur des Oberschenkels mit Stromimpulsen. In einer Studie profitierten 73 Prozent der Teilnehmer bereits nach vier Wochen von der Therapie. Auch die Blockade toxischer Stoffwechselwege bringt Linderung. Benfotiamin, eine Vorstufe des Vitamins B1 (Thiamin), reduziert speziell die Bildung schädlicher Abbauprodukte aus Eiweißen und Zuckern, die sich bei einer schlechten Stoffwechsellage anhäufen. „Diabetiker weisen im Vergleich zu Gesunden eine um 75 Prozent geringere Thiaminkonzentration im Plasma auf“, so Privatdozent Dr. Burkhard Herrmann, Direktor des Instituts für Kardio-Diabetes und Endokrinologie, Technologiezentrum an der Ruhr-Universität Bochum. Dieser Mangel führt zu einer Anhäufung toxischer Stoffwechselprodukte und damit zu einer weiteren Schädigung der Nerven. Bei einer Studie halfen den Patienten 600 mg Benfotiamin pro Tag über sechs Wochen, indem Entgiftungsenzyme aktiviert wurden.
Wenn sich der Körper selbst bekämpft
Statt gesunder Abwehrreaktionen, die bakterielle und virale Eindringlinge in Schach halten würden, geht es bei der chronisch-inflammatorischen, demyelinisierenden Polyneuropathie (CIPD) den eigenen Nerven an den Kragen: Ihre Hüllstrukturen werden sukzessive abgebaut. Unbehandelt führt das Leiden früher oder später zu Lähmungserscheinungen. Eine hoch dosierte, langfristig angelegte Kortikoidtherapie stoppt diese Entzündungsvorgänge. Allerdings treten Nebenwirkungen wie aus dem Lehrbuch auf: Gewichtszunahme, Entkalkung der Knochen oder Veränderungen der Haut sind an der Tagesordnung. Um die Dosis reduzieren zu können, verabreicht man ergänzend immunsuppressive Substanzen.
Im Akutfall greifen Fachärzte zum Plasmaaustausch: Eiweißbestandteile des Erkrankten lassen sich gegen eine Lösung aus Salzen, Puffern und Albumin austauschen – eine Erfolg versprechende, aber äußerst belastende Prozedur, deren Wirkung maximal acht Wochen anhält. Intravenös verabreichte Immunglobuline sind im Vergleich dazu ähnlich wirksam, aber deutlich schonender. Wie diese Behandlung funktioniert, konnte eine Arbeitsgruppe um Professor Dr. Falk Nimmerjahn an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zeigen: Patienten mit CIPD haben aufgrund eines Gendefekts zu wenig Moleküle eines regulatorischen Eiweißstoffs, der das Immunsystem im Zaum hält. Bei der Gabe von Immunglobulinen normalisierte sich der Prozess, indem das regulatorische Molekül vom Körper vermehrt hergestellt wurde.
Lebensbedrohliche Lähmung
Während sich die CIPD vergleichsweise langsam ausbildet und die Symptome auf die Extremitäten beschränkt bleiben, entwickelt sich beim Guillain-Barré-Syndrom innerhalb weniger Tage eine Lähmung, die den ganzen Körper betreffen kann. Besonders bedrohlich ist dabei der Funktionsverlust der Atemmuskulatur, aber auch Herzrhythmusstörungen werden beschrieben. Dementsprechend konzentriert sich die stationäre Therapie neben der Unterdrückung der Autoimmunreaktion auf die Stabilisierung des Herz-Kreislauf-Systems und der Atmung sowie auf die Thromboseprophylaxe. In schweren Fällen ist dazu eine wochenlange intensivmedizinische Betreuung erforderlich.
Wodurch diese Vorgänge letztlich ausgelöst werden, konnten Wissenschaftler noch nicht zweifelsfrei klären. Bei der Auswertung von Patientendaten fiel aber auf, dass etwa zwei Drittel im Vorfeld unter einer bakteriellen oder viralen Entzündung litten. Möglicherweise reagiert das ohnehin aktivierte Immunsystem eben nicht nur auf die Oberflächenstrukturen der Erreger, sondern auch auf die chemisch ähnlich aufgebaute Membran der Nervenfasern. Hingegen konnten Impfungen als Auslöser weder bestätigt noch dementiert werden.
Vergiftete Nerven
Einige Chemikalien schädigen speziell die Nerven. Dazu gehört vor allem Alkohol: Sowohl Ethanol selbst als auch das Abbauprodukt Acetaldehyd wirken toxisch. Hinzu kommt, dass bei chronischem Alkoholmissbrauch der gesamte Stoffwechsel in eine Schieflage gerät. Aber auch Medikamente wie Chemotherapeutika oder Schwermetallsalze wie Arsen, Blei und Thallium greifen die Neuronen an und führen zu Polyneuropathien. An erster Stelle stehen hier die Entgiftung des Körpers und die Fahndung nach den Ursachen. Bei Alkoholmissbrauch sind langfristige pharmakologische und psychotherapeutische Ansätze gefragt.