Es geht mehr als nur um einen Wirkstoff: Schweizer Forscher kommen zum Schluss, dass Chondroitin bei Arthrose wahrscheinlich unwirksam ist. Ein Hersteller dagegen ficht die Methodik und Aussagekraft der im Fachblatt "Schweizerisches Medizin Forum" publizierten Metaanalyse in einer eigenen Veröffentlichung derselben Ausgabe an.
Es gibt nur selten Ausgaben einer medizinischen Fachpublikation, die von Beginn an als brisant gelten – Wissenschaftler am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern und Mediziner des Berner Inselspitals sorgen dafür, dass es jetzt wieder so weit ist. Denn das, was das Team um Peter Jüni, Sven Trelle, Eveline Nüesch und Anne W. Rutjes zu berichten haben, lässt sich in einem Satz resümieren, wie das „Schweizerische Medizin Forum“ in seinem Editorial schreibt: „Können sich Tausende von Ärzten irren?“
Datenmaterial in Hülle und Fülle
Tatsächlich nehmen die Berner Mediziner unter dem Titel „Irrungen und Wirrungen bei der Erforschung von Arthrosetherapien“ eine Metaanalyse, die sie 2007 in den Annals of Internal Medicine publiziert hatten, erneut unter die Lupe, und „kommen zum Schluss, dass Chondroitin bei Arthrose wahrscheinlich unwirksam ist“, wie Klaus Neftel im Editorial des Fachblatts nüchtern attestiert.
Den Berner Vorstoß als Profilierungssucht einzelner Widerspenstige abzutun wäre ein fataler Fehler. Die einzigartige Analyse mit der Nummer 405340-104762 lief nämlich im Rahmen des nationalen Forschungsprojekts NFP 53 – und findet somit über die Grenzen der Schweiz hinweg Beachtung. „Ziel des vorliegenden Projekts war, die Wirksamkeit und Sicherheit wichtiger medikamentöser Interventionen zur Behandlung von Arthroseschmerzen in einer Serie systematischer Übersichtsarbeiten zu untersuchen“, schildern die Autoren das Vorhaben.
An Datenmaterial jedenfalls mangelte es nicht. 20 Studien mit 3846 Patienten lieferten die Basis der Metaanalyse, zudem durchsuchte das Forscherteam das Cochrane Central Register of Controlled Trials, MEDLINE, EMBASE, CINAHL, Kongressbeiträge und Referenzlisten nach randomisierten kontrollierten Studien bei Patienten mit Knie- oder Hüftarthrose. Dass Chondroitin nicht nur in Schweizer Arztpraxen seit Jahren als Hoffnungsträger im Kampf gegen die Arthrose angepriesen wird, ist weder neu, noch spektakulär. Umso mehr überrascht die deutliche Sprache der Autoren: „Je länger man nach einer Wirkung von Chondroitin suchte, desto weniger war sie zu finden – weshalb?“
Vermessene Aussagen
Den Grund für das vermeintliche Versagen der Wundersubstanz liefern die Berner Mediziner im gleichen Atemzug. „Studien mit adäquater Geheimhaltung der Randomisierung, Studien, die nach dem Intention-to-Treat-Prinzip analysiert wurden sowie adäquat gepowerte, grosse Studien mit mehr als 200 Patienten weisen klinisch irrelevante, kleine Behandlungseffekte oder klare Nulleffekte nach“, beschreibt Jüni das Dilemma. Betrachtet man die Problematik aus statistischer Sicht, sind Jünis Erklärungen noch die diplomatischere Version. Denn in einer speziellen Trichtergrafik visualisierten die Mediziner die Effektgrössen der Studien gegen deren Standardfehler – und stellten fest, dass Resultate „zugunsten von Chondroitin“ verschoben worden sind. Kleine Studien, Fehler im Studiendesign und statistische Unzulänglichkeiten hätten, so das knallharte Fazit aus Bern, dem Wirkstoff Chondroitin eine Wirkung zugeschrieben, die eigentlich – zumindest als statistisch relevantes Metastudienergebnis – zu fehlen scheint.
Der Hersteller freilich kontert in der gleichen Ausgabe des Fachblatts und stellt die eigene Variante vor. Danach sind die Schlussfolgerungen der Berner Metaanalyse vermessen, weil sie „auf zu wenig solidem Fundament stehen und sich nicht mit den klinischen Erfahrungen von Tausenden von Ärztinnen und Ärzten in der Schweiz und weltweit decken“, wie es dazu heißt.
Was aber die klinischen Erfahrungen sind und wie sich diese eigentlich statistisch erfassen lassen dürfen die Leser des SMF für sich selbst herausfinden. Die gefühlte Wirksamkeit, so der Eindruck nach Lektüre dieser durchaus besonderen Ausgabe, korreliert eben nicht mit der gemessenen – also was tun?
Auch auf diese Frage hat Jüni eine nüchterne Antwort als praktische Schlussfolgerung für Ärzte parat: „Die Anwendung von Chondroitin in der täglichen Praxis wird daher nicht empfohlen“.