Die Krankenversorgung in Indien ist eine ganze andere Welt, oder doch nicht? Männliche Pflegepraktikanten haben es jedenfalls nicht leicht, sich bei den fürsorglichen Schwestern als Teil des Teams zu behaupten.
Es war mitten in der Nacht, als ich im St. Thomas Hospital, einem 200-Betten-Krankenhaus etwa 15 Kilometer vom Stadtzentrum der Millionenmetropole Chennai entfernt, ankam. Der schmucke, aus mehreren Gebäuden aufgebaute Komplex ließ mich vor Erstaunen die Augen reiben. Schilder mit der Aufschrift CT, Cardiac Centre, Bone and Joint Fracture Unit rissen mich gleich in den ersten Minuten nach meiner Ankunft aus der Illusion, in Indien gehe es ausschließlich um die grundlegende Erstversorgung der Patienten.
Ein müde dreinblickender junger Arzt saß im Outpatient Department, der Ambulanz, und leistete seinen Nachtdienst ab. Das Behandlungszimmer, vom großen Wartesaal nur durch einen dünnen Vorhang getrennt, war in diesem Moment verwaist, schien jedoch auf die Besuchermassen des kommenden Tages vorbereitet: Thermometer, Stethoskope und Verbandsmaterial lagen akkurat angeordnet bereit, ein zweiter Ausgang ließ die Effizienz erahnen, mit der die Ärzte ihre Patienten zu behandeln gezwungen sind.
Eine Vermutung, die sich während meines Pflegepraktikums in den darauffolgenden Wochen bestätigen sollte: Jeden Tag strömen 800 Patienten in das Outpatient Department des St. Thomas Hospital; während ein Patient im Begriff ist, zu gehen, nimmt schon der nächste auf dem Hocker gegenüber dem Schreibtisch des Arztes Platz, bereits ungeduldig beäugt von den Wartenden, die neugierig den erwähnten Vorhang zur Seite ziehen und am Schicksal der anderen Patienten Anteil nehmen.
"Sit and rest, we care!"
"Good morning Dr. Nicolas", begrüßte mich am nächsten Morgen eine Schwester mit schüchternem Lächeln. Zwar fühlte ich mich geschmeichelt, für einen kurzen Moment setzte ich vielleicht sogar ein herablassend-gnädiges Oberarztlächeln auf. Mein schlechtes Gewissen gebot mir jedoch, dieses Missverständnis sofort auszuräumen. Ich erklärte, dass ich als Pflegepraktikant käme und die Schwestern in ihrer Pflegetätigkeit unterstützen solle. Ein ganz und gar verständnisloses Gesicht blickte mich ein wenig mitleidig an, Patienten waschen und Betten machen, das seien doch wohl keine Domänen für Männer und angehende Ärzte, schon gar nicht für Freiwillige aus dem Westen. "Sit and rest, we care", lautete die Anweisung, die ich ignorierte und mich dennoch wie eine Klette an die rührigen Schwestern hing.
Dengue-Fieber an erster Stelle, Diabetes an zweiter, schließlich Verkehrsunfälle und Kaiserschnitte sowie hier und da Typhus, Skorpionstiche und Fiebererkrankungen unbekannter Herkunft – langweilig wurde es im Klinikalltag selten. Schließlich, nach einigen Tagen des beharrlichen Mitlaufens, akzeptierten mich die Schwestern, deren Arbeitstag, Arbeitsweise und Arbeitsutensilien denen einer deutschen Krankenschwester überaus ähnlich sind, als Teil des Teams. Nicht allerdings ohne mich gelegentlich kollegial um Rat zu fragen oder mich beflissentlich über den Patientenstatus informiert zu halten.
Hohe Standards
Staunen ließen mich auch die Operationssäle des Krankenhauses: Verhältnismäßig moderne Technik, kompetente Ärzte und hohe Hygienestandards – einmal von der ausdrücklichen Anweisung, Flipflops zu tragen sowie den Reisigbesen des Reinigungspersonals abgesehen. All das flößte mir Respekt vor den medizinischen Standards ein, die das Krankenhaus heute pflegt und auch weniger wohlhabenden Patienten zugänglich machen will. Innerlich wagte ich das Gedankenexperiment, ob auch ich mich hier bei dringendem Bedarf behandeln lassen würde. Wahrscheinlich schon, dachte ich mir, und wurde auch in den darauffolgenden Wochen meines Praktikums nur selten in dieser Meinung erschüttert.
Auch in den anderen Krankenhäusern und Gesundheitsstationen, die ich während meines fünfwöchigen Aufenthalts noch zu Gesicht bekam, hatte ich allenthalben fern der Stadt und bei weitem nicht in allen Institutionen das Gefühl, in einem Entwicklungsland unterwegs zu sein. Viel auffälliger war da das Bild des boomenden Medizintourismus – es seien die Stichworte Transplantationsmedizin und plastische Chirurgie genannt – in schicken Megakliniken, das Selbstbewusstsein der Ärzte, sich als Teil der weltweiten Mediziner-Elite zu präsentieren, aber auch die gewaltigen Unterschiede zwischen arm und reich gerade in der medizinischen Versorgung.
Fazit
Weniger der maximal mögliche Versorgungsstandard, vielmehr die kulturellen Eigenheiten des Landes erinnerten mich daran, dass ich in Indien unterwegs war. So muss sich ein in Indien praktizierender Arzt viel mehr noch als seine westlichen Kollegen darauf gefasst machen, dass eine komplexe Gesellschaftsstruktur mit den immer noch sehr viel bestimmenden Kasten, der untergeordneten Rolle der Frau, dem Verständnis von Tod, Wiedergeburt und irdischer Spiritualität sowie dem oft zwiespältigen Verhältnis junger Mütter zu weiblichen Nachkommen in sein Arbeitsleben hineinspielt. Indien ist alles, so denke ich heute, nur nicht das, was man erwartet.