Vor sieben Jahren äußerte Jungdemokrat Mißfelder die Meinung, dass 85-Jährige kein Anrecht mehr auf ein künstliches Hüftgelenk auf Kosten der Solidargemeinschaft hätten. Die Reaktionen waren heftig, nun wird die Diskussion neu entfacht – von der Barmer GEK.
Im Mittelpunkt des diesjährigen Krankenhausreport der Barmer GEK steht die Endoprothetik von Hüft- und Kniegelenken. Die Wahl des Themas ist nachvollziehbar. Die gesetzlichen Krankenkassen zahlten allein im letzten Jahr für Hüft- und Knieprothesen inklusive Nachbehandlung 3,5 Milliarden Euro – Tendenz steigend. Im Report wird vorgerechnet, dass zwischen 2003 und 2009 insgesamt rund 1,4 Millionen Hüftgelenke und rund 1 Million Kniegelenke implantiert wurden. Ein weiteres Ergebnis des umfangreichen Werks ist, dass sich die Fallzahlen in diesem Zeitraum bei Hüftgelenk-OPs um real 18 Prozent und bei Kniegelenken um real 52 Prozent erhöht haben. Dieser beängstigende Anstieg veranlasste Vize-Vorstand Rolf-Ulrich Schlenker zu folgenden Vermutungen: "Die Entscheidung zugunsten von Hüft- oder Kniegelenk-Operationen werde zunehmend großzügiger gefällt." Siehe Vorwort des Reports. Und in der Pressemeldung heißt es: "Rentner ohne künstliches Knie- und Hüftgelenk könnten schon bald in der Minderheit sein."
Politisch gewollte Panikmache?
Die Daten des Krankenhausreports basieren auf einer Studie, die die Barmer GEK beim Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung (ISEG) in Auftrag gegeben hatte. Das Ergebnis ist ein umfangreiches Zahlenwerk aus den Jahren 2003 bis 2009. Ermittelt wurden u.a. Krankenhausbehandlungsfälle pro 10.000 Versicherten-(Jahren) real und altersbereinigt (auf Basis der Bevölkerungsstruktur aus dem Jahr 2003), differenziert nach Männern und Frauen sowie nach OP-Ziffern und hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung. Aufschlussreich ist die Tabelle für Hüftgelenk-Erstimplantationen auf Seite 75 im Report der Barmer GEK. Einen Ausweis, wie hoch der Anteil der Rentner mit Hüftprothesen ist, sucht man vergeblich in diesem Kapitel. Doccheck fragte deshalb bei der ISEG nach und erhielt die Auskunft: Auf die Altersgruppe 65+ entfallen 74,3 Prozent der 1,4 Millionen künstlichen Hüften, auf die Altersgruppe 55 und älter insgesamt 90 Prozent. Nach eigenen Hochrechnungen – zugegebenermaßen stark vereinfacht – haben demnach etwa 7 Prozent aller Senioren mit 65 und älter eine Hüftprothese implantiert bekommen. Im Umkehrschluss kommen 93 Prozent noch mit den eigenen Beckenknochen zurecht. Die Frage, was die Barmer GEK mit der Minderheiten-Prophezeiung bezwecken will, darf man also getrost stellen.
Vermutete Indikationsausweitung bringt Ärzte in Verruf
Zumindest hat die Aussage der Barmer GEK ihre Wirkung nicht verfehlt. In einem Kommentar im Tagesspiegel erklärt Horst Baumann: "Die Endoprothetik ist anscheinend ein Markt, auf dem einiges an Geldern bewegt wird. Da stellt sich schon die Frage, ob die, die daran gut verdienen, nicht ein Interesse haben, dass der Rubel rollt." Und weiter heißt es: "Muss die Solidargemeinschaft wirklich jedem eine Hüft- oder Kniegelenksoperation bezahlen?" Dr. med. Werner Wyrwich, Kaufmännischer Leiter CharitéCentrum 13 und Mitglied des Vorstands der Ärztekammer Berlin, weist an gleicher Stelle den Vorwurf, dass zu schnell und zu oft operiert wird, als unsachlich zurück. Er kritisiert außerdem die Berechnungsgrundlage. Gegenüber DocCheck erklärt er: "Es wird bewusst außer Acht gelassen, dass die Veränderung den Vergleichswert „Populationsanteil von 10.000 Menschen“ betrifft. Es ergibt sich zwischen 2003 und 2009 real eine absolute Veränderung von lediglich 2 Implantaten (nämlich 23,4 minus 21,4; Anmerkung d. Red.: Zahlen beziehen sich ebenfalls auf die Tabelle im Report, S. 75) auf die konstante Vergleichsgröße von 10.000 Menschen. Das sind 0,02 Prozent Steigerung gegenüber 2003. Das ist rechnerisch und sachlich richtig." Offensichtlich gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung ergeben allerdings auch die 2 Implantate 1,6 Millionen Fälle.
Überprüfung der vermeintlichen "angebotsindizierten Nachfrage"
Die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) nahm die forsche Aussage der Barmer GEK, dass "Renner ohne künstliches Hüft- und Kniegelenk schon bald in der Minderheit sein könnten", ebenfalls zum Anlass, vor voreiligen Schlüssen über die vermeintliche "Mengenausweitung" zu warnen. Prof. Dr. F.U. Niethard, Generalsekretär der DGOU, sieht eine Zunahme der Fälle schon allein in der demografischen Entwicklung begründet. Außerdem habe sich auch die Indikationsstellung von so genannten Umstellungsosteotomien zu modernem Hüft- und Kniegelenkersatz verlagert. Zur Überprüfung, ob es eine "angebotsinduzierte Nachfrage" gibt, wolle man mit der AOK einen "Versorgungsatlas" (wo werden welche und wie viele OPs durchgeführt) auf den Weg bringen.
Konflikt bessere Medizin contra steigende Kosten
Die Implantation von künstlichen Gelenken ist nicht nur segensreich sondern teilweise auch mit unangenehmen Nachoperationen verbunden. Die Barmer GEK ermittelte für die Revision zusätzliche Kosten von 550 Millionen Euro pro Jahr – ebenfalls mit steigender Tendenz. Bei zunehmenden Implantatzahlen ist das nicht verwunderlich. Laut Professor Dr. Werner Kasper, Chefarzt an der Caritasklinik St. Theresia in Saarbrücken, werden 10 Prozent aller Prothesen vorzeitig gewechselt. Sei es, dass sich der Halt des künstlichen Gelenks im Knochen verschlechtert hat, dass Entzündungen aufgetreten sind oder weil das Material schlichtweg verschlissen ist. Abhilfe könnte die Nanotechnik leisten. Nanostrukturierte Beschichtungen sollen in Zukunft für mehr Stabilität und eine längere Lebensdauer der Prothesen sorgen, berichtet das Hessische Wirtschafts-Ministerium in seiner Broschüre Nanomedizin. Das ist gut für die Patienten und andererseits schlecht für das Gesundheitssystem, wenn die Kosten dadurch steigen. Ein Konflikt, der uns wahrscheinlich noch lange erhalten bleibt.