Jeder Fünfte entwickelt in seinem Leben chronischen Juckreiz. Doch lange wurde der schier unbändige Drang, sich zu kratzen, nicht ernst genommen. Nun könnten neue Medikamente und Therapien Millionen von Betroffenen Hoffnung machen.
Abgeschabte Haut, blutige Stellen am Körper und der ständige Drang sich zu kratzen: Etwa 17 Prozent der Berufstätigen leiden an Juckreiz, bei rund vier Prozent ist der Pruritus heftig oder chronisch. Doch obwohl das Leiden Körper und Psyche enorm belastet, sind nur etwa sechs Prozent in ärztlicher Behandlung. Viele Jahre wurde das Brennen, Stechen und Kratzen allenfalls als Begleitsymptom von einer handvoll Hautkrankheiten betrachtet. Dermatologen hatten nur wenige Behandlungsmöglichkeiten und so war die Aussicht auf eine wirksame Therapie bescheiden. Doch das Bild beginnt zu kippen - vor allem hierzulande. Deutschland ist weltweit das erste Land, das Juckambulanzen eröffnet und eine Behandlungs-Leitlinie für Ärzte erarbeitet hat.
Denn Jucken ist längst nicht Jucken: Allergische Reaktionen, Bakterien- oder Pilzinfektionen, Hautkrebs, Viren, Läuse, trockene Haut, Leber- oder Nierenerkrankungen - all das kann zu Juckreiz führen, ebenso wie bestimmte Medikamente oder kosmetische Wirksoffe. Zu den Mediatoren, die Pruritus auslösen, gehören Amine, Prostaglandine und Neuropeptide. Einer der wichtigsten Vermittler der Juckreaktion ist Histamin. „Spritzt man den Botenstoff unter die Haut, beginnt sie sofort zu jucken“, sagt Clemens Forster vom Institut für Physiologie und Pathophysiologie der Universität Erlangen-Nürnberg, der das Jucken wissenschaftlich untersucht. Der Körper hat seinen Histamin-Vorrat in den Mastzellen gespeichert, die ihn zum Beispiel nach einem Mückenstich innerhalb von Sekunden ausschütten. 1997 haben Wissenschaftler die dazugehörigen Nervenfasern gefunden. „Sie enden frei in der Haut, kommen sie in Kontakt mit Histamin, leiten sie sofort ein Juck-Signal bis zum Rückenmark. Dort wird die Nachricht auf andere Nervenbahnen umgelenkt und bis zum Gehirn geleitet“, erklärt Forster. In den meisten Fällen folgt darauf der nicht zu ignorierende Drang sich zu kratzen.
Und tatsächlich, das Reiben und Schaben verschafft Erleichterung - selbst wenn man sich dabei verletzt und sich regelrecht die Haut vom Leib kratzt. Einer amerikanischen Patientin gelang es angeblich sogar, sich durch die Schädeldecke bis zum Hirn durchzukratzen. Beim Schaben mit den Fingern überlagert das Schmerzsignal den Juckreiz. Zudem nimmt die Aktivität in denjenigen Bereichen des Gehirns ab, die unangenehme Gefühle und Erinnerungen entstehen lassen. Doch der Effekt hält nur kurz vor. Hinzu kommt nun eine Wunde, die heilen muss, und dabei zusätzlich juckt. Ein Juck-Kratz-Kreislauf entsteht.
Hält das Gefühl länger als sechs Wochen am Stück an, ist der Pruritus chronisch geworden. Um das zu vermeiden, muss eine Therapie möglichst früh beginnen. "Beim Jucken gilt die Regel: Wehret den Anfängen", erklärt Prof. Sonja Ständer. Die Expertin leitet an der Hautklinik in Münster die deutschlandweit erste Juckambulanz. Tag für Tag behandelt die Ärztin die verschorften Arme, aufgekratzte Beine und geschundenen Körper von Menschen, die ständig unter Juckreiz leiden. Mit Erfolg: "70 Prozent unserer Patienten können wir helfen, wenn wir sie gemäß den Leitlinien behandeln“, so Ständer.
Beim Kampf gegen das Jucken steht die Pflege der geschundenen Haut an erster Stelle. "Kühlenden Lotionen und juckreizlindernde Cremes verbessern das gestörte Gleichgewicht der Haut und stellen ihre Barrierefunktion wieder her", so Prof. Ständer. Damit kann man die Phasen ohne Krankheitszeichen verlängern und die Häufigkeit und die Schwere von Entzündungen eindämmen. Je nach Ursache lindern auch Salben mit Capsaicin den Juckreiz. Antihistaminika verhindern die Bindung von Histamin und Immunsuppressiva wie Glucocorticoide bremsen das Immunsystem in schlimmen Phasen. „Tacrolismus, Pimecrolismus scheinen zudem zusätzlich an den Nervenfasern zu wirken“, sagt Prof. Ständer. Das Jucken kann zudem zunehmen, wenn schmerzleitende Nervenbahnen durch Opioide blockiert werden. Häufig helfen dann Opioid-Antagonisten wie Naltrexon gegen das Jucken.
Doch längst nicht jedem ist mit diesen Medikamenten geholfen, denn so vielfältig die Ursachen, so individuell muss auch die Therapie sein. So benötigt der Neurodermitiker eine andere Behandlung, als der Krebskranke mit Juckreiz oder ein Patient mit einer Pilzinfektion. Gerade chronischer Juckreiz stellt Dermatologen vor eine Herausforderung. Doch seit das wissenschaftliche Interesse an der Juckreizentstehung gewachsen ist, entdecken Wissenschaftler immer mehr Wirkstoffe, die Juckreiz-Patienten helfen können. "Dabei sind sie oft gar nicht neu", sagt Prof. Sonja Ständer. Gabapentin beispielsweise wird normalerweise bei Epilepsie und zur Schmerztherapie eingesetzt. Bei Juck-Patienten soll das Mittel verhindern, dass der Juckreiz ans Gehirn übermittelt wird. Zum Off-Label-Use gehören auch Serotonin-Wiederaufnahmehemmer aus der Gruppe der Antidepressiva. "Wir haben in den letzten Jahren sehr gute Erfahrungen mit diesen Substanzen gemacht", sagt Ständer. Ein weiteres Medikament könnte schon bald die Palette erweitern. Der Kappa-Opioid-Antagonist Nalfurafin lieferte in Studien an Hämodialyse-Patienten mit starker Juckempfindung überzeugende Ergebnisse. In Japan ist das Medikament bereits zugelassen.
Ständer und ihre Kollegen haben nun eine weitere Therapie-Möglichkeit getestet. Ein wichtiger Vermittler bei der Juckreizentstehung ist das Neuropeptid Substanz P. In einer Studie verabreichten sie Patienten mit chronischem Pruritus einen Gegenspieler: Aprepitant. Bei 80 Prozent der Teilnehmer verbesserten sich die Symptome deutlich, am größten war der Effekt bei Menschen mit Hautkrankheiten. „Von allen neuen Therapien, die in letzter Zeit bei Juckreiz-Patienten angewandt wurden, stellte sich Aprepitant als die wirksamste heraus“, so Prof. Ständer.