Glaubensgrundsätze gibt es nicht nur in Religionen. Auch die Medizin ist nicht frei davon. Ein bekanntes Dogma lautet: Krebsvorsorge rettet Leben. Das ist nicht immer falsch, aber auch nicht immer richtig - beste Bedingungen also für Streit. Ein Paradebeispiel: IGeL-Liebling PSA-Test.
„Mythos Krebsvorsorge“ lautet der Titel eines Buches, das 2003 auf den Markt kam und dessen Autoren Christian Weymayr und Klaus Koch nicht nur das Dogma infrage stellten, dass Krebsvorsorge Leben rette. Sie behaupteten sogar, Vorsorge könne mehr schaden als nutzen. Im Fokus ihrer Kritik stand außer der Mammografie der PSA-Test. Zu Recht, denn der Nachweis des Prostata-Spezifischen Antigens (PSA) im Blut hat bekanntlich ein Grundproblem: Es gibt keinen Grenzwert, bei dem die Fähigkeit, die Kranken und die Gesunden zu erkennen, so richtig zufriedenstellend ist. Entweder ist der Test recht sensitiv, „erkennt“ also zuverlässig ein tatsächlich vorhandenes Karzinom. Aber dann ist seine Spezifität gering, das heißt, der Test ist positiv, obwohl kein Karzinom vorliegt. Möglich ist dies zum Beispiel bei einer Entzündung der Prostata oder einer benignen Hyperplasie.
Ist jedoch die Spezifität hoch, hat der Test eine zu geringe Sensitivität, ein vorhandenes Karzinom wird also nicht entdeckt. In einer aktuellen Studie in der Zeitschrift „European Urology“ zum Beispiel betrugen bei einem Wert ab 1 ng/ml die Sensitivität 86,1 Prozent und die Spezifität 26,9 Prozent. Bei einem Grenzwert von 4 ng/ml lag die Sensitivität bei nur 23,8 Prozent, die Spezifität dafür bei 80,5 Prozent. Die Folgen dieses Problems: Entweder werden zu viele Tumoren nicht erkannt oder aus gesunden Männern kranke Männer gemacht, die dann natürlich auch behandelt werden.
Prostatakrebs - häufig, aber selten tödlich
Hinzu kommt, dass die Rate der Männer, die an ihrem Prostata-Karzinom sterben, sehr gering ist. Aus Autopsiestudien ist bekannt, dass die Prävalenz des Malignoms etwa um den Faktor 10 höher liegt als die Mortalität. Die Diagnose Prostatakrebs kann also zu überflüssigen Therapien führen und die betroffenen Männer grundlos ängstigen. Aufgrund dieses bekannten Problems wurde intensiv nach Wegen gesucht, die Aussagekraft des Tests zu verbessern, etwa durch Bestimmung des freien PSA und nicht nur des Gesamt-PSA-Wertes, der sich aus freiem und gebundenem PSA zusammensetzt.
Unsicherheit trotz vieler Studien
Weiterhin ungeklärt ist vor allem die Hauptfrage, ob ein PSA-Screening Leben rettet. Selbst zwei große Studien im vergangenen Jahr hatten Ergebnisse, die kein endgültiges Urteil über den Nutzen des Screening-Tests erlauben: In der US-Studie PLCO wurde kein positiver Einfluss auf die Mortalität festgestellt, in der europäischen ERSPC-Studie dagegen eine 20-prozentige Reduktion der Prostatakrebs-spezifischen Mortalität nach 10 Jahren. In der aktuellen S3-Leitlinie zum Thema Prostatakarzinom heißt es daher: „Es ist derzeit nicht eindeutig belegbar, dass die Durchführung eines PSA-gestützten Screenings und damit verbundene Risiken diagnostischer und therapeutischer Konsequenzen durch eine Lebensverlängerung aufgewogen werden.“
Auch zwei aktuelle Studien dieses Jahres liefern keine endgültige Klarheit. So lautete erst vor wenigen Wochen eine Überschrift im Standesblatt der deutschen Ärzteschaft: „Halbierung der Mortalität durch PSA-Screening“. Belegt habe dies eine schwedische Studie, publiziert im „Lancet Oncology“, bei rund 20 000 Männern. Um 56 Prozent sei das Risiko, an einem Prostata-Ca zu sterben, in der Gruppe der Männer mit PSA-Screening reduziert worden. Besonders profitierten Männer unter 60 Jahren. Diese Ergebnisse machten klar, dass mit einem „PSA-basierten Prostatakarzinomscreening nicht nur mehr Tumoren entdeckt würden", sondern auch die Mortalitätsrate hochsignifikant gesenkt werden könne, wird Professor Jürgen Gschwend von der TU München zitiert. Doch die Autoren der Studie selbst wiesen darauf hin, dass weiterhin das Risiko einer Überdiagnostik bestehe. Außerdem sei mit 293 die Zahl der Männer recht groß, bei denen das PSA bestimmt werden müsste, um 12 Karzinome zu diagnostizieren und einen Todesfall durch das Malignom zu verhindern. Die Aussagekraft der Studie sei methodisch bedingt eingeschränkt, erklärt dazu das Deutsche Krebsforschungszentrum.
Und damit es auch weiterhin nicht an Unklarheit mangelt, haben im August US-Forscher eine systematische Analyse im „British Medical Journal“ publiziert, wonach ein Prostatakrebs-Screening durch regelmäßige PSA-Tests nach derzeitigen Stand des Wissens keine Vorteile biete. Ausgewertet wurden hier Daten von 387 286 Männern. Zwar wurden signifikant mehr Prostatakrebs-Diagnosen (plus 46 Prozent) gestellt. Aber die Reduktion der krebsbedingten Sterberate um 12 Prozent war statistisch nicht signifikant. Die Gesamtsterblichkeit war sogar fast unverändert. Dr. Otis Brawley, Chef der US-amerikanischen Krebsgesellschaft, äußerte daher kürzlich in einem Interview: „Ich bin sehr besorgt. Es wird vielfach behauptet, auch aus finanziellen Interessen, dass das Prostata-Screening Leben rette. Das ist eine Lüge. Wir wissen das nicht sicher genug.“
Neuer Urin-Test - eine Entscheidungshilfe
Hoffnung setzen einige Experten, etwa der renommierte Urologe Professor Gerald L. Andriole von der Universität von Washington, auf einen molekulargenetischen Urin-Test, den PCA3-Test. Mit diesem Test stehe erstmals ein spezifischer molekulargenetischer Test zur Verfügung, bei dem Zellen der Vorsteherdrüse aus einer Urinprobe analysiert würden. PCA3 (Prostate Cancer Antigen) ist ein Gen, das nur im Prostatagewebe exprimiert wird. Wenn Prostatazellen entarten, wird vermehrt PCA3 exprimiert. Krebszellen synthetisieren dabei 60-100fach mehr PCA3-mRNA als normales Prostatagewebe. Als Ergebnis des Tests erhält man einen PCA3-Score, der als Biomarker für eine Biopsieentscheidung verwendet werden kann. Je höher dieser Score ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für einen Tumornachweis in der Biopsie. Neuere Untersuchungsergebnisse sollen darüber hinaus sogar gezeigt haben, dass der PCA3-Test einen Rückschluss auf die Bösartigkeit eines Karzinoms zulasse. Obgleich dieser neue Test dem PSA-Test wohl überlegen ist, hat er das selbe Grundproblem: Es gebe keinen Grenzwert, bei dem Sensitivität und Spezifität in einem zufriedenstellenden Verhältnis zueinander stünden, schlussfolgern die Autoren einer aktuellen Studie.
Entwickelt wurde der Test (Progensa™) von dem kalifornischen Biotechnologie-Unternehmen Gen-Probe mit Sitz in San Diego. In Deutschland wird der Test zum Beispiel vom Heidelberger Labor Limbach angeboten. Der Preis für Selbstzahler beträge 330 Euro, was für einen molekulargenetischen Test in der Onkologie durchaus üblich sei, heißt es auf der Webseite der Laborbetreiber. Zum Vergleich: Der PSA-Test als Screening-Methode kostet für Selbstzahler (IGeL) weniger als 50 Euro. Die Voraussetzungen dafür, dass auch weiterhin über Nutzen und Nachteil eines laborchemischen Prostata-Screenings gestritten wird, sind also gut.