Schumi hat Nacken, andere haben es im „Kreuz“. Tiefer Rückenschmerz ist eine Herausforderung für Arzt und Patient. Die IGOST hat jetzt eine weitere Leitlinie zur ursachenorientierten Pharmakotherapie des Kreuzschmerzes erarbeitet.
Die Einteilung in spezifische und unspezifische Rückenschmerzen ist für den Patienten eine Fahrkarte zur Odyssee durch diverse Facharztpraxen. Sie treibt den Patienten zur Verzweiflung und in die Chronifizierung. Der Stempel „unspezifisch“ ist quasi die Lizenz zur Unterlassung einer differenzierten Diagnose und somit zum Unterlassen einer effizienten Therapie. Der Rückenschmerz ist keine Erkrankung, er ist ein Symptom. „Genauso unwissenschaftlich ist die Einteilung in akute, subakute, chronische oder chronisch rezidivierende Kreuzschmerzen anzusehen“, sagt der Orthopäde Dr. Martin Strohmeier vom Schmerzzentrum Bodensee-Oberschwaben in der MMW in seinem Bericht über die neuen Leitlinien. Daher hat ein Expertengremium der IGOST eine Leitlinie erarbeitet, bei der sich die Pharmakotherapie an der dem Symptom Kreuzschmerz zugrunde liegenden Pathologie orientiert.
Fragebogen hilft Reflexbogen
Durch Traumata oder massive Überlastung eines Muskels kann es am Rücken zu Schmerzen kommen, die muskulär bedingt sind. Hierbei handelt es sich weniger um einen Muskel- , sondern vielmehr um einen nozizeptiven Schmerz. Über den somatomotorischen Reflexbogen führt jeder Schmerzimpuls, der über das WideDynamicRange-Neuron (WDR) geleitet wird, zu einer sekundären Muskelverspannung. Bei Kreuzschmerzen kann sich daraus schnell ein Circulus vitiosus ergeben. Die offensichtlichen Symptome sind Kreuzschmerz und Muskelverspannung, die eigentliche Schmerzursache ist jedoch häufig eine Störung im Bereich der Zwischenwirbelgelenke. Nozizeptoren sind ebenfalls im Bereich des Periosts, der Sehnen und der Bänder, im Knochen (Osteoporoseschmerz) und in der Muskulatur lokalisiert. Da die gesunde Bandscheibe über keine nervale Versorgung verfügt, kann ein bandscheibenbedingter Rückenschmerz erst bei degenerativen Veränderungen mit Einsprossung eines Gefäßnervenbündels auftreten. Ob es sich um einen nozizeptiven oder neuropathischen Schmerz handelt, kann mithilfe eines Fragebogens (Paindetect ®) erhoben werden.
Auch die IGOST hat einen Fragebogen mit Auswertungsschema entwickelt. Dieser Heidelberger Kurzfragebogen ermöglicht bereits beim Erstkontakt zum Patienten das Erfassen einer psychischen Comorbidität. Bei nozizeptiven Schmerzen ist die Grundursache ein Entzündungsvorgang. Daher sind Antiphlogistika aus der Gruppe der NSAR, COX-2-Hemmer oder Kortikoide wirksam. Bei neuropathischen Schmerzen kommen trizyklische Antidepressiva, die im noradrenergen und serotonergen System wirken, zum Einsatz. Bewährt haben sich u.a. Amitryptilin. Antikonvulsiva wie Pregabalin wirken auf spannungsabhängige Calciumkanäle. Gabapentin beeinflusst auch die glutaminerge Erregungsübertragung.
Das Schmerzorchester hat viele Solisten
Schmerz macht Angst, Angst macht Muskelverkrampfung und die wiederum triggert den Schmerz. Die somatomotorische Relaxierung nimmt deshalb eine Schlüsselrolle in der Therapie und Chronifizierungsprophylaxe des Rückenschmerzes ein. Endorphine und Prostaglandine sind lediglich zwei „Musiker“ im Schmerzorchester, wenn auch wichtige Solisten. Neue Erkenntnisse der Schmerzphysiologie haben maßgeblich dazu beigetragen, auch andere Mediatoren als „Feinde“ zu klassifizieren. Neuerdings sind auch die Ionen Natrium, Kalium und Calcium als Schmerzmediatoren identifiziert worden. Somit ergeben sich adjuvante Therapiekonzepte. Bisher existiert für die Pharmakagruppe, die die Ionenkonzentration an Natrium, Kalium oder Calcium mindert und so die neuronale Plastizität beeinflussen kann, keine einheitliche Nomenklatur. An dieser Stelle wird der Begriff „analgetische Ionenkanalmodulatoren“ vorgeschlagen (Bastigkeit, M.: Analgetische Arzneistoffe, Govi Verlag 2008).
Tolperison: Wie Lidocain - nur anders
Tolperison unterscheidet sich in zahlreichen Aspekten von üblichen Muskelrelaxantien. Das Pharmakon besetzt nicht nur Bindungsstellen im zentralen Nervensystem, sondern greift auch an peripheren Nerven an. Obwohl es mit Lidocain verwandt ist, zeigt Tolperison keine antiarrhythmogenen Eigenschaften am Herzmuskel. Durch eine lidocainähnliche Blockade der Natriumkanäle der Nervenmembran bewirkt Tolperison eine konzentrations- und reizstärkeabhängige Abnahme der axonalen Erregbarkeit. Weiterhin nimmt die axonalen Erregbarkeit konzentrations- und reizstärkeabhängig ab.
Tolperison zeigt folgende Wirkungen:
Flupirtin: Türöffner für Kalium
Flupirtin gehört zur Substanzklasse der Selective Neuronal Potassium Channel Opener (SNEPCO). Der Wirkansatz klingt spannend, Berichte über Leberschäden und einen möglichen Missbrauch lassen den Kanalöffner aktuell im ungünstigen Licht erscheinen. Die IGOST betrachtet die Wirkung „primär oder reflektorisch muskulkär“ immerhin als B-Empfehlung. Die Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz vom 4. Oktober 2010 hingegen sieht einen Wirksamkeitsvorteil als nicht erbracht an.
Wirkung von Flupirtin:
Methocarbamol: Empfang im WDR
Methocarbamol aktiviert Glycin-gesteuerte Hemmvorgänge im Rückenmark, weniger jedoch die GABA-erge Hemmung, die sich vor allem im Gehirn findet. Außerdem reguliert das Pharmakon die Aktivität von Projektionsneuronen, beispielsweise von den WideDynamicRange-Neuronen (WDR-Neuronen) im Hinterhorn des Rückenmarks. So wird die Reflexaktivierung günstig beeinflusst und der Muskel indirekt relaxiert. Das zentral wirkende Muskelrelaxans hat im Jahr 2006 die Nachzulassung erhalten. Die Studienlage ist insgesamt dürftig.
Opiate: Ist weniger mehr?
Opioide Analgetika werden zur Schmerzlinderung eingesetzt und sollten nach der Stärke, der Comorbidität, der Neben- und Wechselwirkungen ausgewählt werden. Im o.g. Beitrag von Dr. Martin Strohmeier über den Ausblick auf die Leitlinien wird die Auffassung vertreten, dass „es für den Patienten häufig besser ist, bei starken und sehr starken Schmerzen ein niedrig dosiertes Opiat einzunehmen als ein hoch dosiertes Opioid, da die Nebenwirkungen in aller Regel geringer sind“. Diese Meinung ist, wenn sie sich denn in den Leitlinien wiederfindet, in der Form sicherlich diskussionswürdig. Der Patient muss die Menge an Opiaten erhalten, die notwendig ist, damit er schmerzfrei leben kann. Nicht nur die Dosis sondern auch die Wirkstärke und die unterschiedliche Belegung der Opiatrezeptoren bestimmt sein Nebenwirkungsprofil. Wenn die Aussage hingegen so zu verstehen ist, dass niedrigdosierte Opiate der WHO-Stufe III nebenwirkungsärmer sind als hochdosierte der Stufe II, dann kommt dies dem aktuellen Wissen deutlich näher. Tramadol beispielsweise besitzt eine Wirkstärke von 0,1-0,3, im Vergleich zu Morphin (Wirkstärke 1) löst es eine deutlich stärkere Übelkeit aus. Der Grund hierfür ist, dass es nicht nur mit Opiatrezeptoren interagiert, sondern auch im serotonergen System angreift. Hydromorphon (Wirkstärke 8) und Buprenorphin (Wirkstärke 100) lösen im Vergleich zu Tramadol und Morphin erheblich weniger Übelkeit und Obstipation aus.
Grünes Licht und rote Flaggen
Der Kreuzschmerzpatient wird vom Allgemeinmediziner, Orthopäden, Neurologen, Physiotherapeuten und anderen Fachdisziplinen versorgt. Jede Gesellschaft zimmert ihre eigenen Leitlinien. Sinnvoller erscheint eine interdisziplinäre, krankheitsorientierte und nicht behandlungsorientierte Leitlinie. Ein Blick zu den USA zeigt, wie es aussehen kann. Dort gibt es den „standard of care“. Hier werden erst die „red flags“ ausgeschlossen. Darunter versteht man ernsthafte Erkrankungen wie Tumore etc. Erst dann wird behandelt.
Für die amerikanischen Leitlinien wurden 11.000 Literaturquellen von 19 Experten unterschiedlicher Fachrichtungen gesichtet. Im Sinne von Evidence Based Medicine erhalten die untersuchten Methoden die Ampelfarben rot, gelb und grün. Überwiegt der Nutzen gegenüber Kosten und Risiken gibt’s grün. Es bleibt zu hoffen, dass sich die neuen Kreuzschmerz-Leitlinien der unterschiedlichen Fachgesellschaften nicht in zu vielen Punkten widersprechen. Darunter leiden Arzt und Patient gleichermaßen.