Krankenkassen bedienen sich zunehmend moderner Analyse-Techniken wie "Data Mining", um Luftrezepten auf die Spur zu kommen. Von der Software versprechen sich auch Korruptionshüter Fortschritte im Kampf gegen Missbrauch - Data Mining macht Appetit auf mehr.
Das European Healthcare Fraud and Corruption Network (EHFCN) schätzt, dass in der Europäischen Union jährlich 56 Milliarden Euro im Gesundheitswesen durch Betrug oder Korruption verloren gehen. Das Netzwerk hat sich zum Ziel gesetzt, ihren Mitgliedern eine Plattform zur Verfügung zu stellen, auf der Werkzeuge, Schulungen, Best-Practice-Beispiele und innovative Ideen im Kampf gegen Missbrauch im Gesundheitswesen angeboten werden. Im EHFCN sind derzeit 20 Mitglieder aus 12 Ländern vertreten. Dazu zählen Ministerien, Krankenversicherungen sowie diverse öffentliche und private Organisationen wie beispielsweise Transparency International Deutschland e.V.. Wie hoch der Schaden tatsächlich ist, darüber gibt es allerdings keine abgesicherten Erkenntnisse.
Suche nach typischen Betrugsmustern
Seit kurzem kooperiert EHFCN mit SAS, einem Softwarehaus, das weltweit Lösungen und Analyse-Technologien für den Gesundheitssektor anbietet. "Wir stellen SAS lediglich unser Netzwerk zur Verfügung. Es handelt sich nicht um eine kommerzielle Zusammenarbeit", so Paul Vincke, Geschäftsführer des EHFCN. Es gehe seiner Organisation darum, die Ausreißer in Abrechnungen zu analysieren und in einem nächsten Step herauszufinden, ob es typische Betrugsmuster gibt, für die Prüfempfehlungen aufgestellt werden können.
Bei der SAS-Software handelt es sich um ein Data Warehouse-System, das überwiegend im Controlling, zur Prozess-Steuerung und -Planung oder im Marketing eingesetzt wird. Die außerordentlich effizienten Analyse-Methoden für große Datenbestände, das so genannte Data Mining, macht die Software auch für Krankenkassen zur Aufdeckung versteckter Betrugsmuster interessant. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es eine Vielzahl von weiteren Data-Warehouse-Anbietern auf dem Markt gibt. Als Datenbasis für das Data Mining dienen Krankenhaus- und Arzt-Abrechnungsfälle, Rezepte oder Heil- und Kostenpläne, die von den Versicherungen eingescannt und nach eigenen Regeln für diverse Prüfaufgaben gespeichert und analysiert werden. Ein Kunde von SAS in Deutschland ist die Techniker Krankenkasse (TK). Sie setzt die Software seit 2005 ein.
Retaxierung in zweistelligen Millionenhöhen
Schon bevor der Gesetzgeber mit §197a Sozialgesetzbuch die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet hat, Stellen zur Fehlverhaltensbekämpfung einzurichten, hatte die TK abrechnungsspezifische Ermittlungs-Zentren installiert. "Von den jährlich rund 1,6 Millionen eingescannten Krankenhausrechnungen bezahlt der Computer heute im Schnitt 40 Prozent automatisch", berichtet der für Abrechnungsbetrug zuständige Pressesprecher, Hermann Bärenfänger. Die anderen 60 Prozent, von der Prüfsoftware mit entsprechenden Fehlercodes versehen, gehen an die entsprechenden Stellen zur Ermittlung, beispielsweise bei nicht plausiblem Upcoding der DRG (Diagnosebezogene Fallgruppen). Die als fehlerhaft eingestuften Abrechnungen werden an das Krankenhaus zurückgeschickt. Das allein hätte der TK eine Retaxierung von 84 Millionen Euro pro Jahr eingebracht. Vor fünf Jahren hätte man nur etwa ein Viertel dessen retaxieren können.
Permanente Optimierung der Rastermethoden zahlt sich aus
Eine permanente Optimierung der computergestützten Abrechnungsprüfung mit neuen Rastermethoden ermögliche in immer mehr Fällen, die Leistungspflicht abzulehnen, erklärt Bärenfänger. Häufen sich beispielsweise bestimmte Dokumentationsfehler, wird die Prüfquote automatisch raufgesetzt. Nach dem aufgeflogenen Schwindel mit den "Luftrezepten" habe man spezielle Filter eingebaut. Aus dem regelmäßigen Austausch zwischen den Krankenkassen, der auch hervorragend funktioniere, fließen ebenfalls neue Erkenntnisse in die Rasterfahndung ein. Der Aufwand scheint sich für die TK zu lohnen. Die Ermittlungsstellen würden ein Bruchteil der Einsparungen kosten, betont Bärenfänger.
Schwarze Schafe in allen Leistungsbereichen
In einer Studie der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover zum Thema Betrug in der gesetzlichen Krankenversicherung wurden u.a. 140 Tätigkeitsberichte, zu denen die gesetzlichen Kassen laut § 197a verpflichtet sind, aus den Jahren 2004 und 2005 ausgewertet. Daraus geht hervor, dass die schwarzen Schafe in allen Leistungsbereichen des Gesundheitssystems aber auch bei den Kassenpatienten zu finden sind. Bereiche, in denen besonders häufig Missbrauch vorkommt, hätten sich nicht feststellen lassen. Die Betrugsfälle, pardon die Vertragsverstöße (von Betrugsfällen darf erst nach Verurteilung gesprochen werden), reichen von Missbrauch der Krankenversichertenkarte, Abrechnung nicht erbrachter Leistungen bis zur ungerechtfertigten Abrechnung von Haushaltshilfen. Die ausgewiesenen Schäden bewegten sich zwischen 100 und einer Million Euro, wobei nicht in allen Fällen ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten nachgewiesen werden konnte. "Sofern Unregelmäßigkeiten festgestellt wurden, begnügten sich die Krankenkassen meist damit, die Rückerstattung der unrechtmäßig erlangten Beträge zu fordern", so ein Studienergebnis. Anzeige wurde nur in 2,4 Prozent der geahndeten Fälle erhoben.
Unterm Strich halten sich die Rückerstattungen in Grenzen. Bei der AOK heißt es, dass sie zwischen 2005 und 2007 eine Million Euro zurückgeholt hat. Bei der kleineren KKH Allianz waren es ebenfalls eine Million. Diese Zahlen beziehen sich auf Vertragsverstöße und sind nicht zu verwechseln mit der Gesamtsumme der Retaxierungen. Bei der TK schätzt man, dass etwa 1,8 Millionen Euro auf regelwidrige Verstöße zurückzuführen sind. Offensichtlich sind sie besser aufgestellt als die anderen Kassen bzw. haben mehr Erfahrung. Zumindest sind sie laut Bärenfänger die einzigen, die Rasterfahndung einsetzen. Der Chef der Ermittlungsgruppe, Frank Keller, ist ehemaliger Polizeifahnder.