Vorteilhafte Blutdruck-Zielwerte werden immer wieder kontrovers diskutiert – nun auch niedrige. Eine Studie zeigt: Werte unter 120 mmHG können für manche Patienten schädigend sein. Die Vor- und Nachteile einer Blutdrucktherapie müssen immer individuell abgewogen werden.
Unstrittig ist, dass ein zu hoher Blutdruck Gefäße, Herz und Organe schädigt. In den aktuellen Leitlinien wird daher ein systolischer Blutdruckzielwert von unter 140 mmHg empfohlen. Wie weit der Blutdruck im Verlauf der Behandlung sinken darf, bleibt allerdings offen. Eine aktuelle Analyse zweier großer Studien (ONTARGET und TRANSCEND) mit insgesamt 30.937 Hochrisikopatienten legt nahe, dass die Devise der LDL-Cholesterin-Werte „je niedriger desto besser“ für die Blutdruckwerte nicht gilt. Bei zu niedrigen Werten stieg das Risiko der Patienten für ein kardiovaskuläres Ereignis sogar an. Doch welcher Zielwert birgt das geringste Erkrankungsrisiko? https://youtu.be/pPxnIh_WTb8
In den Studien ONTARGET und TRANSCEND wurde die Wirksamkeit von Telmisartan einzeln und in Kombination mit Ramipril geprüft. Anhand der Studiendaten nach dem 53-Monate Follow-Up teilten die Wissenschaftler die Patienten in zwei Gruppen ein: Teilnehmer mit einem Blutdruck unter 120 mmHg und Teilnehmer mit einem Blutdruck zwischen 120 und 140 mmHg. Die Gruppe mit dem niedrigeren systolischen Blutdruck von unter 120 mmHg hatten ein um 14 % höheres Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse als jene, deren Blutdruck zwischen 120 und 140 mmHg gelegen hatte. Bei der „Unter-120 mmHg-Gruppe“ stieg die kardiovaskuläre Sterblichkeit um 29 % und die Gesamtmortalität um 28 %. Herzinfarkte, Schlaganfälle und Klinikeinweisungen aufgrund einer Herzinsuffizienz kamen unter dieser Schwelle allerdings nicht häufiger vor.
Auch beim diastolischen Blutdruck wirkten sich zu niedrige Werte nicht vorteilhaft für manchen Patienten aus: Bei Werten unter 70 mmHg kamen Schlaganfälle zwar seltener vor, dafür stieg das Risiko für einen Herzinfarkt und eine Klinikeinweisung wegen Herzschwäche (Hazard Ratio, HR: 1,55 und 1,59). Verglichen wurden Patienten mit einem diastolischen Blutdruck von weniger als 70 mmHg mit Patienten, die einen Blutdruck zwischen 70 und 80 mmHg aufwiesen. Die Gruppe mit dem niedrigeren diastolischen Druck wies ein um 31 % höheres Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis auf.
In diesen beiden Studien war ein systolischer Blutdruck zwischen 120 und 140 mmHg und diastolischen Druck um die 75 mmHg mit dem besten Outcome für die Hochrisikopatienten assoziiert. Bei diesen Werten traten die wenigsten kardiovaskulären Ereignisse auf. Die Studienautoren plädieren daher für einen Blutdruckzielwert von unter 130 mmHg. Werte unter 120 mmHg seien nicht sicher.
Diese Erkenntnis scheint zunächst den erst im Jahr 2015 veröffentlichten Daten der SPRINT-Studie zu widersprechen. In dieser Studie hatte sich ein Zielwert von unter 120 mmHg bei der Hypertonietherapie als besonders vorteilhaft für die Patienten erwiesen. Die Blutdruckwerte der drei Studien sind jedoch nicht 1:1 vergleichbar. Um den „Weißkitteleffekt“ zu vermeiden, waren die Blutdruckwerte in der SPRINT-Studie folgendermaßen erhoben worden: Die Messung verlief automatisch und unbeobachtet, also ohne das Beisein eines Arztes. Sie begann erst dann, wenn der Patient mindestens fünf Minuten in Ruhe gesessen hatte und wurde zudem dreimal wiederholt. Experten befürchten, dass diese Messtechnik zu weitaus geringeren Blutdruckwerten führte als mit den sonst gängigen Messmethoden. https://youtu.be/LxxPTHg4a80
Eine Untersuchung der Indiana University an 275 Patienten bestätigte, dass die Blutdruckwerte je nach Art der Messung teilweise erheblich voneinander abweichen können. Dabei verglichen die Nephrologen die Werte der Praxismessung mit denen der wissenschaftlichen Messung wie bei der SPRINT-Studie und die Werte aus der ambulanten 24-Stunden-Blutdruckmessung: Der automatisch (wie in der SPRINT-Studie) gemessene systolische Blutdruck lag im Mittel um 12,7 mmHg niedriger als der Wert, der sich bei der konventionellen Praxismessung ergeben hatte, und auch um 7,9 mmHg niedriger als der Wert in der ambulanten 24-Stunden-Blutdruckmessung. Beide Messungen waren am selben Tag erfolgt. Beim diastolischen Wert ließen sich dementsprechend Unterschiede von 12,0 mmHg und 11,7 mmHg feststellen. Die Messwerte variierten allerdings sehr stark, sodass der Blutdruck eines Patienten in der ärztlichen Praxis einen um 46,1 mmHg niedrigeren, aber auch einen um 20,7 mmHg höheren Wert aufweisen kann als die Werte, die in der SPRINT-Studie „weißkittelfrei“ ermittelt wurden. Misst ein Arzt den Blutdruck in der Praxis, liegen die Werte meist höher als bei einer automatischen Messung. von Pia von Lützau [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], via Wikimedia Commons
Welche praxisrelevanten Schlussfolgerungen lassen sich aus der aktuellen Sekundäruntersuchung also ziehen? Alle in einen Topf zu werfen, ist zwar äußerst praktisch, für den Einzelnen aber nicht immer mit dem maximalen Therapieerfolg verknüpft, wie die aktuelle Lancet-Studie zeigt. Die Autoren gehen davon aus, dass sich zunächst kein generell erstrebenswerter minimaler Zielwert ergibt. Vielmehr müsse der individuell vorteilhafte Zielwert je nach Risikoprofil des Patienten abgewogen werden. So könnten beispielsweise Patienten mit einem besonders hohen Risiko für einen Schlaganfall durchaus von einem Blutdruck unter 120 mmHg profitieren; auf potentielle Herzinfarktpatienten wirkt sich ein solcher systolischer Wert hingegen eher negativ aus. Die große Herausforderung für Ärzte wird nun sein, das Risikoprofil ihres Patienten einschätzen zu können.
Achieved blood pressure and cardiovascular outcomes in high-risk patients: results from ONTARGET and TRANSCEND trials. M. Böhm et al.; Lancet, doi 10.1161/JAHA.116.004536; 2017 Implications of Blood Pressure Measurement Technique for Implementation of Systolic Blood Pressure Intervention Trial (SPRINT). R. Agarwal, Journal of the American Heart Association, doi: 10.1161/JAHA.116.004536; 2017