Der Anteil der unterversorgten Schmerzpatienten in Altenheimen liegt zwischen 16 und 30%. Im Durchschnitt wird jeder über 60jährige mit drei Arzneimitteln simultan dauertherapiert. Die Schmerztherapie in der Geriatrie stellt den Therapeuten vor besondere Herausforderungen.
Nach einer Studie von Gagliese und Melzack leiden etwa 60-80 % der 60- bis 89-Jährigen an chronischen Schmerzen. Mehr als drei Viertel der in eigenen Räumen lebenden Betroffenen werden gar nicht oder völlig unzureichend schmerztherapeutisch versorgt. Schmerz im Alter kann viele Ursachen haben: Degenerative Skeletterkrankungen, Osteoporose, Sturzfolgen, Polyneuropathien, Zosterkomplikationen, Tumoren und Metastasen. Die Probleme beginnen oft bereits bei der Diagnose. Eine Schmerzmessung ist bei dementen Personen, die sich nicht mehr gezielt äußern können, kaum möglich. Nicht selten ist in diesen Fällen aggressives Verhalten die einzige Möglichkeit, auf schmerzauslösende oder -verstärkende Aktionen, zum Beispiel Waschen oder Anziehen, zu reagieren. Bei adäquater Analgesie nehmen die Aggressionen ab.
Alte Patienten sind pharmakologisch anders
Die verbreitete Annahme, dass die Resorption von Medikamenten im Alter schlechter wird, ist pauschal nicht richtig. Für die meisten untersuchten Medikamente wurden keine klinisch bedeutsamen Änderungen der Resorptionskinetik gefunden. Möglicherweise heben sich einige der Altersveränderungen des Gastrointestinaltraktes gegenseitig in ihren Auswirkungen auf. So verschlechtert sich beispielsweise bei sauren Antiphlogistika die Resorptionsrate durch die geringe Magenazidität, gleichzeitig wird sie jedoch durch die verzögerte Magen-Darm-Passage verbessert. Es existieren aber eine große Anzahl extrinsischer Faktoren, die die Resorptionskinetik beeinflussen können.
Bei der Pharmakokinetik spielt der Anteil des Gesamkörperwassers eine wichtige Rolle. Diese Kenngröße nimmt zwischen dem 20. und 80. Lebensjahr um 10 - 20% ab. Der relative Fettanteil steigt bei Männern von 18 auf 36 %, bei Frauen von 33 auf 45%. Daraus folgt, dass die gleiche Dosis eines vorwiegend wasserlöslichen Arzneistoffs zu einer höheren Plasmakonzentration führt. Bei fettlöslichen Medikamenten resultiert aus diesem Umstand eine Verlängerung der biologischen Halbwertzeit.
Auch die Leber altert
Auch die Leber als metabolisierendes Organ verändert sich mit zunehmendem Alter. Eine Änderung der Leberfunktion führt automatisch zu einer Veränderung der Pharmakokinetik der meisten Medikamente. Das relative Lebergewicht sinkt von 2,5% auf 1,5%. Im 65. Lebensjahr beträgt die Leberperfusion nur noch 55-60% der eines 25jährigen. Verglichen mit dem Einfluss extrinsischer Faktoren wie Alkohol, Nikotin und lebertoxischen Medikamenten sind die altersphysiologischen Leberveränderungen jedoch vergleichsweise gering. Auch die Funktion der Niere nimmt ab. Die glomeruläre Filtrationsrate nimmt zwischen dem 20. und 90. Lebensjahr um 35% ab. Bei Medikamenten, die vorwiegend renal eliminiert werden, resultiert daraus eine Verlängerung der Halbwertzeit.
Den durch den physiologischen Alterungsprozess hervorgerufenen pharmakokinetischen Veränderungen muss bei einer analgetischen Pharmakotherapie Rechnung getragen werden. So können Nebenwirkungen und Arzneimittelinteraktionen vermieden bzw. reduziert werden. Ältere Menschen bewerten Schmerzen eher zurückhaltend. Sie akzeptieren den Schmerz als Ausdruck des Alterungsprozesses oder ihrer Erkrankung, andere hingegen fürchten die Bedeutung des Schmerzes oder glauben nicht an die Möglichkeit einer schmerzlindernden Behandlung. McMillan untersuchte bereits vor vielen Jahren tumorbegleitende Krankheitssymptome und berichtete, dass ältere Patienten im Verlauf ihrer Erkrankung eine niedrigere Schmerzintensität angeben. Beim alten Patienten ist weder ein therapeutischer Minimalismus noch ein polypragmatisches Vorgehen angezeigt. Medikamente müssen gut ausgewählt, gezielt eingesetzt und angemessen dosiert werden, um für den älteren Patienten einen möglichst nebenwirkungsfreien Nutzen zu erzielen.
Eine Studie des Arbeitskreises Schmerz im Alter hat problematische Tendenzen in der Schmerztherapie dargestellt:
Nicht-Opioide Analgetika
NSAR sind bei einer Dauertherapie des älteren Patienten vergleichsweise risikoreicher. Dies gilt besonders bei folgenden Begleiterkrankungen:
Bei älteren Patienten, die wegen Nebenwirkungen stationär behandelt werden müssen, sind nichtsteroidale Antirheumatika die häufigste Ursache. Das Risiko einer Ulcusblutung mit letalem Ausgang ist bei älteren Patienten um den Faktor 4 erhöht. Erhöht ist nach einer Studie von Buffum et al auch die Gefahr eines akuten Nierenversagens im Alter bei hochdosierter Diuretikatherapie und gleichzeitiger NSAR-Gabe.
„Paracetamol ist der Acetylsalicylsäure und den NSAR, einschließlich der selektiven COX-2-NSAR, aufgrund der in der Gerontologie zu befürchtenden Nebenwirkungen vorzuziehen“, so die Empfehlung der Amerikanischen Gesellschaft für Gerontologie. Da jedoch im Alter nicht selten entzündliche rheumatische Erkrankungen eine Analgetikatherapie notwendig machen, kommt man um „saure“ Pharmaka nicht herum. Gastrointestinale Nebenwirkungen lassen sich mit Protonenpumpenhemmern oder Antazida mildern. Außerdem kann eine eingeschränkte Leber- und/oder Nierenfunktion eine Kontraindikation sein.
Einige Besonderheiten der Nicht-Opioiden Analgetika im Alter:
Opioide Analgetika – Vorsicht vor den Metaboliten
Anstatt hohe Dosen von Stufe-2-Analgetika zu geben, ist eine Umstellung auf stark wirksame Opioide (WHO-Stufe III) häufig günstiger für alte Patienten. Keinesfalls dürfen Opiate unterschiedlicher Stärken miteinander kombiniert werden. Das stärkere Opioid verdrängt das schwächere von seiner Bindungsstelle. Wirkstärke 0,2 (beispielsweise Tramadol) kombiniert mit Wirkstärke 1 (Morphin) ergibt rechnerisch zwar 1,2, pharmakologisch aber 1. Auch wenn die erwünschte Wirkung nicht gesteigert wird, kann es zu einer Zunahme der unerwünschten Nebenwirkungen wie Übelkeit und Stuhlverstopfung kommen. Vor einer (Dauer)Therapie mit Opioiden müssen nach Möglichkeit natürlich andere, möglichst kurative Maßnahmen, ergriffen werden.
Grundlagen der Schmerztherapie
Das Konzept des WHO-Stufenschemas kann auf fünf Kernsätze zusammengefasst werden:
1. by the mouth, 2. by the clock, 3. by the ladder, 4. for individual, 5. attention to detail
Frei übersetzt heißt das: 1. Schmerzmittel sind oral (oder nicht-invasiv) einzunehmen, 2. nach einem festen Zeitschema, 3. nach einer festen Stufenleiter, 4. in individueller Dosierung, 5. Besonderheiten sind zu beachten.
Für die Dauermedikation sollten bei geriatrischen Patienten entweder retardierte oder langwirksame Opioide (z. B. Buprenorphin) eingesetzt werden. Sie gewährleisten ausreichend lange Einnahmeintervalle und gleichzeitig einen zusammenhängenden Nachtschlaf, der nicht durch Analgetikaeinnahmen unterbrochen werden muss, was nicht zuletzt zur Patientencompliance beiträgt. Ist es notwendig, die Analgetika über eine Sonde zu verabreichen, sind viele Retardzubereitungen nicht geeignet. Buprenorphin ist hier eine sinnvolle Alternative, da es sublingual gegeben werden kann.
Das ideale Analgetikum für den alten Menschen sollte:
Opioide Analgetika für den geriatrischen Patienten sollten einen „nierenfreundlichen“ Metabolismus besitzen. Eine Kumulation des Abbauproduktes Morphin-6-Glucuronid hat Nebenwirkungen zur Folge, die sich erst nach Tagen in Form von deliranten Zuständen zeigen können. Gerade bei einer im Alter eingeschränkten Nierenfunktion kann der Metabolit kumulieren. Deshalb erscheint es sinnvoll, im höheren Lebensalter solche Opioide zu bevorzugen, die diesen nicht bilden. Dies gilt für:
• Buprenorphin, • Hydromorphon und • Oxycodon.
Morphin hingegen bildet Morphin-3-Glucuronid. Auch das Opioid-Analgetikum Pethidin erscheint für Geriatriker ungeeignet. Es kann vermehrt ein Anticholinerges-Syndrom auslösen. Im Alter vermindert sich das Gesamtkörperwasser. Die Applikation hydrophiler Analgetika wie Morphin führt folglich zu einer höheren Analgetikawirkung bei jüngeren Patienten. Außerdem bildet Morphin nebenwirkungsträchtige Metabolite die bei Niereninsuffizienz kumulieren können. Die relative Zunahme des Körperfettgewebes kann bei Verabreichung lipophiler Analgetika wie Buprenorphin zwar zu einer verzögerten Wirkung führen, eine Kumulation bleibt jedoch aus. Folglich muss die zu verabreichende Dosis mit zunehmendem Alter nach individueller Wirkung und Nebenwirkung vorsichtig angepasst werden.
Buprenorphin – starke Wirkung, keine Atemdepression
Buprenorphin Sublingualtabletten können bei älteren, kachektischen Schmerzpatienten mit Schluckbeschwerden eingesetzt werden. Die Dosis kann sehr gut an die individuelle Schmerzintensität angepasst werden. Die Substanz wirkt als Partialagonist am Mµ-Rezeptor. Dieser besondere Wirkmechanismus erhöht erheblich die Anwendungssicherheit. Eine Atemdepression kann auch bei massiver Überdosierung fast nicht auftreten. Die antagonistische Wirkung am Kappa-Rezeptor kann sich bei älteren Schmerzpatienten, insbesondere solchen Menschen mit depressiven Verstimmungen positiv auswirken. In ihrer Vigilanz werden die Patienten kaum durch Buprenorphin beeinflusst. Gerade bei Patienten mit Erkrankungen der Atemwege wie z. B. COPD ist die nicht relevante Beeinflussung des Atemminutenvolumens durch Buprenorphin von Nutzen. Bei multimorbiden Patienten mit einer Vielzahl an Begleitmedikationen bleibt die Therapie mit diesem opioiden Partialagonisten aufgrund des geringen Wechselwirkungsspektrums überschaubarer. Buprenorphin wirkt nicht immunsupressiv, davon profitieren gerade ältere und immungeschwächte Schmerzpatienten. Verglichen mit Morphin (Wirkstärke 1) beträgt die analgetische Potenz 100. Ein weiterer Vorteil ist die lange Wirkdauer trotz geringer Eliminationshalbwertzeit und die geringe Bindung an für andere Pharmaka relevante Proteine.
Hydromorphon – alte Substanz im neuen Kleid
Das semisynthetische Dihydromorphin-Derivat gehört zur Substanzklasse der Morphinane und wird bereits seit 1926 weltweit eingesetzt. Es ist wesentlich lipophiler als Morphin und überschreitet die Blut-Hirn-Schranke entsprechend schnell. Der Hersteller gibt die analgetische Potenz mit dem Faktor 7,5 an, andere Autoren (M. Kloke, Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie) mit 5. Hydromorphon besitzt eine sehr geringe Plasmaeiweißbindung, diese begünstigt das geringe Interaktionspotenzial. Gerade für Geriatriker oder multimorbide Patienten ist dies von großer Bedeutung. Myoklonien, die bei anderen Opioiden auftreten können, wurden bei oraler Gabe nicht beobachtet. Der Wirkstoff ist zwar schon über 8o Jahre alt, wurde aber mehrfach galenisch weiter entwickelt. Die OROS® (ORales OSmotisches System)-Technologie beispielsweise nutzt das Prinzip der Osmose. Durch einen Push-Pull-Mechanismus wird der Wirkstoff Hydromorphon gleichmäßig und nahezu unabhängig von der Nahrungsaufnahme freigesetzt. Nach Einnahme des osmotischen Dragees dringt Wasser aus dem Magen-Darm-Trakt ins Innere (Pull-Komponente), der Quellkörper dehnt sich aus und pumpt langsam und kontinuierlich Hydromorphon durch eine kleine lasergebohrte Öffnung in der Hülle nach außen (Push-Komponente). Die Pharmakokinetik ist bei allen angebotenen Wirkstärken dosisproportional. Nach 24 Stunden ist die Hydromorphon-Freisetzung beendet.
Oxycodon – doppelt so stark wie Morphin
Oxycodon ist ein halbsynthetischer Opioidagonist, der ursprünglich vor allem zur postoperativen Analgesie eingesetzt wurde. Er zählt zur Gruppe der mittel- bis starkwirksamen Opioid-Analgetika der Stufe III des WHO-Stufenschemas. Oxycodon hat Affinität zu Kappa-, My- und Delta-Opiatrezeptoren im Gehirn und Rückenmark. Die Bioverfügbarkeit des Pharmakons ist fast doppelt so hoch wie die von Morphin. Im Vergleich zu Morphin kann die Dosis daher bei gleicher Wirkung nahezu halbiert werden, und die Wirkung tritt schneller ein. Oxycodon verursacht die typischen Wirkungen und Nebenwirkungen der Opiate, soll aber zu weniger zentralnervösen Nebenwirkungen wie Halluzinationen und zu einer geringeren Histaminfreisetzung führen. Die Folge ist ein geringeres Auftreten von Juckreiz, Blutdruckabfall und Müdigkeit. Es liegen zahlreiche Studien vor, die die Wirksamkeit und Verträglichkeit Tramadol gegenüberstellen. Oxycodon ist bis zu 20-mal stärker als Tramadol, verursacht jedoch deutlich weniger Übelkeit und Muskelkrämpfe. Kontrollierte Studien bei über 65-Jährigen haben gezeigt, dass verglichen mit jüngeren Erwachsenen die Clearance von Oxycodon nur leicht vermindert ist. Bei nicht manifesten Leber- oder Nierenfunktionsstörungen ist eine Dosisanpassung in der Regel nicht erforderlich. Eine neuere galenische Variante ist die Kombination von Oxycodon mit Naloxon. Hierdurch soll die Gefahr einer Obstipation geringer sein, außerdem wird ein Missbrauch außerhalb der Schmerztherapie als Drogenersatz verhindert. Eines haben alle Opioide gemeinsam: Die Patienten sollten vorbeugend gegen Obstipation behandelt werden. Macrogol erscheint günstiger als Lactulose. Das letztgenannte Laxans kann zu heftigen Blähungen führen.
Transdermale Systeme nicht immer Mittel der Wahl
Nicht nur der Wirkstoff, auch die Art der Applikation ist von Bedeutung. Transdermale therapeutische Systeme werden überproportional häufig in der Geriatrie angewendet. Die Resorption und die Wirkung sind besonders beim betagten Patienten starken Schwankungen unterlegen und kaum vorhersehbar. Transdermal verabreichte lipophile Opioide wie Buprenorphin und Fentanyl werden als lipophile Substanzen bei kachektischen alten Menschen wegen der fehlenden subkutanen Fettschicht nur sehr schlecht aufgenommen. Außerdem führen Hautfalten zu einer verminderten Kontaktfläche.
Dosisreduktion bei Antihypertonikaeinnahme
Eine Reduzierung der Opioiddosen im Alter ist immer dann anzustreben, wenn zusätzlich Medikamente, wie Antihypertonika und/oder Kalzium-Antagonisten, eingenommen werden. Obwohl Opioide über andere Transmittersysteme, wie das monaminerge (Dopamin, Serotonin), das GABAerge, das histaminerge und/oder das cholinerge System angreifen, kann es mit Antihypertonika und/oder Kalzium-Antagonisten zu Arzneimittelinteraktionen kommen. Die Ursache hierfür ist eine Hyperpolarisation der Zellen auf Membranebene. Opioide verstärken den zellulären Ausstrom von K+-Ionen und vermindern den Ca2+-Einstrom in die Zelle.
Weil Kalziumantagonisten primär über eine Kalziumwiederaufnahmehemmung wirken, kommt es in Kombination mit einem Opioid zur Wirkungspotenzierung (synergistischer Effekt). Deshalb ist besonders bei älteren Patienten bei jeglicher Dauermedikation mit solchen Pharmaka oder Pharmakagruppen an eine Wirkungsverstärkung zu denken. Hierbei werden neben einer wünschenswerten Wirkungsverstärkung (Analgesie) auch die Atemdepression und Sedierung verstärkt und/oder die Wirkung verlängert.
Wer sich intensiver mit dem Thema auseinander setzen möchte, findet in der sogenannten PRISCUS-Liste eine Übersicht über die potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen.