Die Daten des Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin gelten als Gradmesser für die gesamte Republik, pünktlich zum Start der Grippesaison 2011 erscheinen sie in der aktuellen Fassung als „Epidemiologischer Jahresbericht“.
Tatsächlich liefert die Hauptstadt schon auf Grund ihrer Größe einen entscheidenden Vorteil: In Berlin werden durch die Gesundheitsämter der Bezirke im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) über 50 verschiedene Infektionskrankheiten erfasst. Diese Daten laufen zentral im LAGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin) zusammen, wo im Fall von „bezirksübergreifenden Ausbreitungen und Infektionskrankheiten mit hohem Gefährdungspotential für die Bevölkerung“ die entsprechenden Maßnahmen koordiniert werden.
Soweit die administrativen Details. Ärzte dürften sich eher über die Inhalte des Papers interessieren. Und das wartet schon beim ersten Blick ins Eingemachte mit einer kleinen Sensation auf. Denn anders als in den Medien vielfach beschrieben und von Laien erwartet hielt im Berichtszeitraum 2009 nicht etwa die von der WHO ausgerufene „Neue Grippe“ A/H1N1 die Berliner am meisten in Schach – vielmehr hatten die Menschen mit Durchfällen, Brechreiz und Magenkrämpfen zu tun, weil Noroviren selbst die saisonalen Grippefälle in den Schatten stellten. Insgesamt 10.204 Fallzahlen zählten die Gesundheitsämter. Gerade der direkte Vergleich zwischen Noro- und Influenzavorkommen demonstriert den Siegeszug des Durchfall-Erregers. Was für Berlin gilt, hat auch für Deutschland Gültigkeit. So meldeten Ärzte bundesweit insgesamt 175.000 Grippefälle, bundesweit litten laut Bericht aber mehr als 178.000 Menschen an den Folgen der unsäglichen Norovirus-Darminfektion.
Westerwelles geographische Umgebung
Die Plätze drei und vier teilen sich – in Hauptstadt und Bund – nahezu auf gleichem Niveau Rotaviren und Campylobacter-Erreger. Rund 60.000 Menschen hatten jeweils mit der einen oder anderen infektiösen Erkrankung zu kämpfen. So spannend sich derartige Fallzahlen auch lesen, aussagekräftige Informationen lassen sich erst aus den jeweiligen Inzidenzen ableiten. Und hier treten bereits bei den nächsten Erreger-Kandidaten der Top 10 Liste deutliche Unterschiede zwischen Hauptstadt und dem Rest der Republik auf. Beispiel Salmonellose: Während Berlin lediglich eine Inzidenz von 22,38 verzeichnet, kommen im Bundesdurchschnitt auf 100.000 Menschen 38,29 Infektionen des gleichen Typs vor.
Hepatitis C Erreger wiederum scheinen sich in Westerwelles geographischen Umgebung dem einstigen Ziel seiner Partei annähern zu wollen. Die Inzidenz der Viren in Berlin liegt bei 18, wenn auch nicht Prozent sondern Personen. Außerhalb schwirren diese auf eher realem FDP-Wahlumfragenniveau von rund 6 (Personen). Doch auch ernsthafter betrachtet gibt es interessante, für Ärzte verwertbare Informationen. Borreliose etwa gilt als wachsende Bedrohung, dabei traten in Berlin lediglich 88 Fälle auf, bundesweit waren es knapp 5700. Dass hingegen Giardiasis und Tuberkulose die Gesundheitsämter mit rund 400 bzw. knapp 300 Meldungen mehr beschäftigten als Masern (33 Fälle) gehört ebenfalls zu den wenig bekannten Aspekten des Dokuments.
Selbst vergessene oder verdrängte Seuchen wie die mit der Rinderseuche BSE in Verbindung gebrachte Creutzfeldt-Jakob Erkrankung (CJK) kommen durch die Statistik wieder zu Tage. So registrierten Gesundheitsbehörden bundesweit 86 CJK-Fallzahlen, Berlin meldete im gleichen Zeitraum sieben.
Viele Zahlen, viele Details
Wer den Bericht als reine statistische Unterhaltungslektüre abstempeln wollte, läge falsch. Denn die Analyse befasst sich eingehend mit den Ursachen der registrierten Erkrankungen, vor allem die demographische Betrachtung hilft Ärzten im Alltag, von Beginn an sensibler auf bestimmte Patientengruppen zu reagieren. So schnellten beispielsweise bei Kindern im Alter von fünf bis neun Jahren die Campylobacter-Fallzahlen innerhalb eines einzigen Jahres um 31 Prozent in die Höhe, von allen infizierten Altersklassen wiesen Säuglinge bis zu einem Jahr die höchste Hospitalisierungsrate (43 Prozent) auf. Ohne diese Detailbetrachtung käme man freilich zu einem ganz anderen Ergebnis. Denn über alle Altersgruppen verteilt gingen statistisch betrachtet in Berlin die Campylobacter-Fälle deutlich zurück.
In einem anderen Bereich behält Berlin aber die unangefochtene und eindeutige Führungsrolle, wenn auch ohne Vorbildcharakter: Die Syphilis-Fälle lagen in der Millionen-Metropole mit 12 Fällen auf 100.000 Einwohnern rund vier Mal so hoch wie in Gesamtdeutschland.