Wachheitserlebnisse während der OP gelten als Horrorszenario bei Ärzten und Patienten gleichermaßen. Die Uniklinik Wien belegt nun, dass das Phänomen häufiger vorkommt, als unter Medizinern angenommen.
Die OP lag thematisch irgendwo zwischen „Wetten das...“ und „Wikileaks“, nebenbei kam noch ein Gespräch über das Winterwetter zustande. Worüber die Chirurgen sonst noch redeten, hörte die 18-jährige Frau mit Achilles-Sehnenriss trotz Narkose zwar ebenfalls mit – nur bemerkbar machen konnte sie sich nicht. Szenarien wie diese sind kein Fantasieprodukt, sondern zählen zum Alltag der Anästhesie. Bis zu 80 Patienten pro Jahr geraten in die skurrile Worst Case Situation: Sie bekommen auf dem OP-Tisch alles mit, weil Narkotika Schmerzen und jegliche motorische Bewegung ins Nirwana befördern – nicht aber das Bewusstsein der Operierten. Glaubt man dem, was das Fachblatt "Wiener Klinisches Magazin" (Band 13/ Heft 5/ 2010,p. 26 ff.) schreibt, gehen rund zwei Promille aller Anästhesien auf diese Weise schief.
Das Problem, das keiner haben wollte
Denn das Thema Awareness galt im OP-Alltag lange Zeit als irrelevant. Publik gewordene Einzelfälle waren kein Grund, das unliebsame Phänomen zu verallgemeinern oder überdimensioniert zu thematisieren. Im Gegenteil. Eine im Jahr 2007 publizierte US-Studie an acht Zentren in North Carolina schien sogar Entwarnung zu geben: Über einen Beobachtungszeitraum von drei Jahren und unter Berücksichtigung von 87.361 Patientendaten konnten lediglich sechs Fälle von Awareness nachgewiesen werden, konstatierten die Autoren. Damit kam, statistisch betrachtet, auf 14.560 Narkosen genau eine unerwünschte intraoperative Wachheit – so what?
Mit der trügerischen Ruhe im OP dürfte nun Schluss sein. “Wer denkt, Wachheitserlebnisse seien selten, der irrt”, heißt es dazu in einem Kongressbericht der Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin, den das "Wiener Klinische Magazin" jetzt veröffentlichte. Glasklares Fazit der Kongressteilnehmer: Sowohl Art der Operationen, als auch bestimmte Patientenfaktoren führen zum unerwünschten Wachheitszustand. Als Risikofaktoren haben Mediziner gleich eine Armada an Faktoren ausgemacht. Danach stehen kardiochirurgische Eingriffe ganz oben auf der Liste, auch Operationen nach Unfällen und Kaiserschnitten gelten als „eingriffsabhängige“ Risiken. Die korrekte Anamnese kann weitere Hinweise auf eine drohende Awareness liefern. Patienten mit Alkohol-, Drogenproblemen und eingeschränkter Hämodynamik beispielsweise zählen zur gefährdeten Gruppe, auch schwer kranke Menschen müssen mit einer intraoperativen Wachheit rechnen.
Tipps gegen die unerwünschte Wachheit
Allerdings ist das Phänomen Awareness keinesfalls so mysteriös, wie viele Ärzte meinen – und ließe sich sogar im Vorfeld bekämpfen. Zunächst sollten Anästhesisten die Risikopatienten identifizieren. Auch Menschen, die noch nie auf dem OP-Tisch ihre Umgebung wahrnahmen, können zur Risikogruppe zählen, wenn sie „nicht mittels Gabe eines Benzodiazepins auf die OP vorbereitet werden“, wie die Autorin des Berichts, Anita Kreilhuber, schreibt. Wer seinen Patienten Lachgas gibt muss hingegen damit rechnen, dass diese während der OP aufwachen – ohne dass es jemand merkt. Ohnehin scheint das Monitoring der Schlüssel zum Erfolg gegen jegliche Form der Awareness zu sein. Hier liefern in erster Linie der Bispektral Index (BIS), der Patient State Index (PSI) und der sogenannte SNAP-Index ebenso wie Entropie und ein funktionierender Narkosetiefenmonitor aussagekräftige Indizien auf den Wachzustand. Was viele Anästhesisten trotz Datenflut nicht wissen: Der oft verwendete BSI-Wert liegt oft bei 60, und somit im Graubereich der intraoperativen Wachheit. Denn viele Patienten erleben laut Kreilhuber die OP trotz eines BSI von 60 voll mit, optimal seien daher Werte die näher bei 40 lägen.
Sofern die Vorsichtsmaßnahmen nicht greifen und es trotzdem zur Awareness kommt, warnen die Anästhesisten ihre Kollegen vor einem geradezu fatalen Fehler. Der Arzt sollte seine ohnehin aufgewühlten Patienten auf keinen Fall fragen: „Hatten Sie bereits vor der OP psychische Probleme?“