Ein Riss der vorderen Kreuzbands bei Sportlern bedeutet Arbeit für den Chirurgen. Darin waren sich bisher die allermeisten Sportärzte einig. Eine Veröffentlichung im renommierten New England Journal sagt nun, dass die Hälfte aller Operationen unnötig seien. Wirklich?
Es ist häufig ein vernehmbares „Plopp“, bevor das Knie wegsackt. Hinweis auf eine der häufigsten und zugleich gefürchtetsten Verletzungen im Sport. Sie bedeutet erst einmal eine Pause von sechs Monaten bis zu einem Jahr, bis intensives Training den Körper wieder dorthin bringt, wo er vorher war. Anders als etwa Verletzungen der Seitenbänder heilt ein Riss des vorderen (wie auch des hinteren) Kreuzbandes nicht von alleine aus.
Abwarten statt operieren
Wer seine Sportler-Laufbahn fortsetzen möchte, der hat eigentlich keine Alternative zur Operation - einer Kreuzbandplastik. Die meisten Operierten sind zwei Jahre danach wieder sportlich aktiv, wenn auch oft nicht mehr im gleichen Umfang. Oder ist ein Sportlerleben ohne Kreuzband doch denkbar? Eine Veröffentlichung im New England Journal of Medicine (NEJM) im Sommer dieses Jahres rüttelte etliche Orthopäden und Sportärzte wach. Denn da behaupteten Richard Frobell und seine Kollegen von der schwedischen Universität Lund doch tatsächlich, mit einer „Wait and See“-Strategie ohne frühzeitige Operation wären die Beeinträchtigungen zwei Jahre danach nicht größer als bei jenen mit der schnellen Kreuzbandplastik.
Zum Beweis rekrutierte er 121 sportlich aktive Patienten im Alter zwischen 18 und 35 mit einem Riss des vorderen Kreuzbands, darunter viele Wettkampf-Athleten. Nach Zufallsprinzip, aber mit Einverständnis der Teilnehmer, überließ er die Hälfte den Chirurgen, die andere Hälfte behandelten Physiotherapeuten konservativ. Nur bei Problemen und nicht zufriedenstellenden Ergebnissen wurden sie nachoperiert. Das Maß für die Kniequalität nach zwei Jahren trifft nach Frobells Ansicht am besten der „KOOS“-Score (Knee Injury and Osteoarthritis Outcome Score), der Schmerzen und andere Beschwerden, Kniefunktion in Sport und Alltag sowie Lebensqualität berücksichtigt.
Eine Sofort-Operation brachte es danach auf 39,2 KOOS-Punkte, konservative Behandlung mit OP-Option auf 39,4. Bei 59 Probanden mit abwartender Strategie entscheiden sich aber letztendlich doch 23 im Nachhinein für ein neues Kreuzband, im Mittel rund ein Jahr nach der Randomisierung. Entsprechend diesen Studienergebnissen, so die schwedischen Autoren, könnte demnach mehr als die Hälfte aller Operationen für den Standard-Patienten mit gerissenem Kreuzband entfallen - ein gewichtiges Argument für effektive Kostensenkung in der aufwändigen Sportmedizin.
Stabiler, aber nicht gesünder
Ganz so einfach scheint aber der Weg nicht zu sein. Bereits in einem Editorial zum nachfolgenden Artikel im New England Journal geht Bruce Levy von der Mayo-Klinik im amerikanischen Rochester nicht gerade schonend mit den schwedischen Kollegen um. So könnten aktive Leistungssportler ohne OP wohl kaum zu ihrer alten Form zurückkehren. Ausserdem sei die Gefahr von Schäden am Meniskus durch die größere Instabilität im Knie weitaus größer. Ein Artikel aus dem Jahr 2009 im British Journal of Sports Medicine berichtet von einer Analyse mit einem Follow-up nach zehn Jahren, dass zwar das operierte Knie sicher stabiler, nicht aber gesünder wäre. Denn die Arthritis-Rate - die Folge von kleineren und größeren Verletzungen nach dem therapierten Kreuzbandriss - sei etwa gleich groß.
Meniskus-Verletzungen, das sagt auch die NEJM-Studie, sind bei Operierten weitaus seltener als bei Abwartenden. Peter Eysel von der Uniklinik Köln ist ebenfalls nicht von der Operation je nach Ergebnis überzeugt. Das Deutsche Ärzteblatt zitiert ihn: „Die Studie geht nicht auf die individuellen Bedürfnisse hinsichtlich der Belastbarkeit des Patienten ein.“ Besonders jungen Sportlern empfiehlt er die Operation, um das Knie stabil zu halten. Michael Krüger-Franke vom medizinischen Versorgungszentrum München am Nordbad rät zur Band-Operation. Jedoch nicht sofort nach der Verletzung, sondern bis zu sechs Wochen danach. Das „verhindert sehr effektiv postoperative Vernarbungen und Verwachsungen im Kniegelenk; das haben umfangreiche Studien erwiesen. Würde man sofort operieren, läge das Risiko solcher Vernarbungen bei 20 bis 30 Prozent.“
Zaubermittel Stammzellen
Möglicherweise gibt es aber auch noch einen dritten Weg. „Healing Response“ heißt das Zauberwort; die Technik stammt von dem unter Leistungssportlern gut bekannten Richard Steadman aus Colorado. Dabei öffnet der Arzt das Knochenmark an verschiedenen Stellen und erzeugt dadurch eine gehörige Blutung. Das gerissene Kreuzband wird reponiert und austretende Stammzellen übernehmen unter vorsichtiger Belastung die Reparatur. Vorteil: Die minimal-invasive Operation birgt weniger Risiken, der Klinikaufenthalt ist kurz und die volle Knie-Leistung schnell wieder hergestellt. Bisher gibt es zum Vergleich mit den anderen Alternativen aber noch wenig Daten.
In Deutschland reißt im Schnitt alle sechseinhalb Minuten ein Kreuzband, fast immer das vordere. Frauen haben dabei ein etwa achtfach höheres Verletzungsrisiko, so sagt die Statistik. Auch das Risiko für das andere Bein ist nach einer ersten Ruptur deutlich höher. Möglicherweise spielt bei diesen Zahlen die genetische Komponente gehörig mit.
Die Angst trainiert mit
Ob und wann operiert wird, liegt am Patienten und dessen Sportlichkeit, aber auch am Gesundheitssystem. In Amerika vergehen zwischen Ruptur und OP im Durchschnitt zwei bis drei Monate, in Skandinavien acht bis zehn. Wer ganz auf die Operation verzichtet und das Knie mit intensiver Gymnastik wieder in Form bringt, gewinnt zwar Zeit und vermeidet Operationsrisiken, muss aber auch beim Verzicht auf Leistungssport mit der Angst leben. Nur 10 Prozent der Patienten, so die Statistik, haben Beschwerden im Alltag. Aber bei einem Drittel ist nach eineinhalb Jahren immer die Unsicherheit dabei, ob das Knie hält. Nach vier Jahren ohne Kreuzband-Ersatz sind es achtzig Prozent.
Zu dieser Angst hat das Ärzteteam aus Lund im New England Journal keine Daten. Dennoch finden sich Hinweise in den Patientengeschichten. Einige der Probanden mit konservativer Behandlung ließen sich nachoperieren, obwohl sie keine Beschwerden hatten. Ob zumindest diese chirurgischen Eingriffe eher der Psyche als dem Gelenk nützten, können nur weitere Langzeitstudien klären.