Ohne Hintergedanken verordnen Ärzte anders, wenn sie Aufmerksamkeiten der Pharmaindustrie erhalten. Mehrere Studien zeigen: Ein Großteil der Ärzte ist sich dabei gar nicht bewusst, dass sie beeinflusst werden. Muss der Gesetzgeber eingreifen?
Korruption ist ein subtiles Unterfangen. Viel läuft im Verborgenen ab, und die Betroffenen – in unserem Fall Ärzte – merken nur wenig davon. Pharmareferenten und Mediziner sind ständig im Austausch. Während man meint, selbst alle Informationen der Industrie vermeintlich kritisch zu prüfen, wird man dennoch in seinem Handeln beeinflusst und zwar unbewusst. Auf dieses Dilemma machte Michael A. Steinman von der University of California in San Francisco, bereits vor 16 Jahren aufmerksam. Er unterstellt keinem Mediziner böse Absichten, will aber zeigen, welche subtilen Mechanismen ablaufen.
Steinman wählte 117 niedergelassene Kollegen aus. Von ihnen nahmen 105 an der Befragung teil. Sie erhielten Geschenke von unterschiedlichem Wert. Die meisten Ärzte (61 Prozent) gaben an, dass Industrieförderungen und Kontakte ihr eigenes Verschreibungsverhalten nicht beeinflussen würde. Aber nur 16 Prozent glaubten, dass andere Ärzte ähnlich immun seien. „Ein Großteil aller Ärzte ist sich dabei gar nicht bewusst, dass sie beeinflusst werden“, resümiert Steinman.
Diese Erkenntnis bestätigt Klaus Lieb von der Unimedizin Mainz für Deutschland. Er kontaktierte 1.338 Ärzte per Online-Fragebogen und erhielt 160 Antworten. 84 Prozent der Teilnehmer gaben an, Außendienstmitarbeiter der pharmazeutischen Industrie mindestens einmal pro Woche zu sehen. 14 Prozent erhielten sogar täglichen Besuch. Rund 69 Prozent akzeptierten Arzneimittelmuster, 39 Prozent Werbegeschenke, und 37 Prozent nahmen an gesponserten medizinischen Weiterbildungen teil. Immerhin glaubten 43 Prozent, sie würden von Pharmareferenten ausreichend präzise und objektiv informiert. 42 Prozent gaben an, ihre Verschreibungsgewohnheiten würden „gelegentlich“ oder „häufig“ beeinflusst. Praxen mit häufigem Kontakt hatten signifikant höhere Zahlen an Rezepten und an DDD, was sich bei den Gesamtkosten aber nicht zeigte. Die Gründe bleiben unklar. Vertrauten Ärzte ihren Pharmareferenten, verordneten sie mehr Originalpräparate, obwohl es preisgünstige Generika gab.
Colette DeJong von der San Francisco School of Medicine ergänzt Liebs Bewertung um einen entscheidenden Aspekt: Bereits kleine Aufmerksamkeiten ändern das Verhalten. Sie wertete Daten von 279.669 Ärzten aus. Sie erhielten 63.524 Gratifikationen. Meist handelte es sich um Essen im Wert von weniger als 20 US-Dollar. Bereits eine Einladung veränderte das Verschreibungsverhalten. Beim Kontakt wurde das jeweilige Pharmakon besprochen. Ärzte verordneten Rosuvastatin (plus 18 Prozent), Nebivolol (plus 70 Prozent), Olmesartan (plus 52 Prozent) oder Desvenlafaxin (plus 118 Prozent) häufiger als andere Wirkstoffe der jeweiligen Klasse. Damit zeigten bereits kleine Aufmerksamkeiten aus Sicht von Sponsoren wünschenswerte Effekte. Die Lösung scheint verblüffend einfach zu sein: Warum lässt die Regierung nicht alle Zahlungen offenlegen?
In Deutschland existiert momentan nur die Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie (FSA). Deren Mitgliedsorganisationen gaben 575 Millionen Euro für unterschiedliche Sponsoring-Aktivitäten aus, Stand 2015. Anlässlich der Veröffentlichung ihrer Zahlen sagte Klaus Lieb, die Initiative sei grundsätzlich zu begrüßen. „Es gibt allerdings Probleme bei der Transparenz.“ Seine wesentlichen Kritikpunkte:
Einen Punkt lässt Lieb allerdings unerwähnt. Recherchetools wie die Datenbank von Correctiv und Spiegel online lassen sich von Laien zwar leicht bedienen. Die Ergebnisse gleichen aber ohne weitere Kommentierung eher einem mittelalterlichen Pranger. Correctiv schreibt beispielsweise: „Spitzenreiter unter den namentlich bekannten Geldempfängern war ein Arzt in Essen: Dr. Hans Christoph Diener hat im vergangenen Jahr mehr als 200.000 Euro für Vorträge, Fortbildungen, Beratungshonorar und Spesen erhalten. Auf Platz zwei folgt der Bonner Mediziner Dr. Jürgen Rockstroh mit 148.000 Euro, auf Platz drei der Diabetologe Dr. Michael Albrecht Nauck aus Bochum mit 128.000 Euro und auf Platz vier der Diabetologe Dr. Thomas Forst aus Mainz mit 100.000 Euro.“ Dass diese Zahlen in derart unreflektierter Form bei Patienten nur auf eine Art verstanden werden können, ist gewiss.
Andere Länder kämpfen mit ähnlichen Problemen. Zwar hat die US-Regierung Firmen mit dem „Physician Payments Sunshine Act“ bereits im Jahr 2010 verpflichtet, Zahlungen an Mediziner offenzulegen. Allerdings scheinen Open Payments Reports Ärzte nicht sonderlich zu beeindrucken, berichtet Jona A. Hattangadi-Gluth von der University of California, San Diego. Sie fand heraus, dass im Jahr 2015 genau 449.864 (48 Prozent) aller 933.295 Ärzte Industriezahlungen bekommen haben. Das Gesamtvolumen belief sich auf 2,4 Milliarden US-Dollar, aufgeteilt in rund zehn Millionen einzelne Transaktionen. Hausärztlich tätige Kollegen oder Allgemeinmediziner erhielten seltener Boni als Chirurgen. Der Unterschied lag bei 48 versus 61 Prozent. Auch im Betrag selbst gab es deutliche Unterschiede von 2.227 versus 6.879 Dollar pro Kopf. „Obwohl sich Ärzte für ethische Werte und Professionalität einsetzen, erkennen viele nicht die unbewusste Beeinflussung, die Industriebeziehungen auf ihre Entscheidungsfindung haben“, kommentiert Hattangadi-Gluth. Etliche Studien hätten gezeigt, dass finanzielle Interessenkonflikte von kleinen Geschenken bis hin zu großen Summen für die Beratung, die Entscheidungsfindung von Heilberuflern verändern können. Welche Möglichkeiten es gegen diese Art der Einflussnahme gibt, zeigt ein Best-Practice-Beispiel.
Einrichtungen können den US Physician Payments Sunshine Act nämlich durch eigene Regularien ergänzen. Ian Larkin von der University of California, Los Angeles, hat anhand von 19 Unikliniken untersucht, welchen Mehrwert Restriktionen mit sich bringen. Von ihnen setzten elf alle empfohlenen Maßnahmen um: Sie schränkten Gespräche mit Pharmareferenten ein, verboten Geschenke und entwickelten hausinterne Mechanismen, um ihre Regelungen auch durchzusetzen. Den restlichen acht Zentren reichten Einzelregelungen aus. Für seine Studie verglich Larkin Verschreibungsdaten zehn bis 36 Monate vor der Einführung von Restriktionen mit dem Zeitraum von 12 bis 36 Monaten nach der Implementierung. Basis waren 16.121.483 Verordnungen von 2.126 Ärzten akademischer Einrichtungen und von 24.593 Ärzten als Kontrollgruppe. Signifikante Unterschiede fand der Forscher bei acht von elf Kliniken mit strenger Handhabung. Bei Zentren mit laxer Umsetzung war es nur eines von acht. Mediziner verordneten 1,67 Prozent weniger Arzneimittel gezielt über Markennamen und 0,84 Prozent mehr anhand von allgemeinen Kriterien wie dem Wirkstoff. Deutliche Unterschiede gab es bei Lipidsenkern, Antihypertensiva, bei Präparaten zur Therapie der gastroösophagealen Refluxkrankheit, bei Hypnotika, Antidepressiva und Präparaten zur ADHS-Therapie. Das Modell zeigt, wie sich Gesetze durch hauseigene Regelungen sinnvoll erweitern lassen.
Was könnte Deutschland angesichts dieser Erfahrungen besser machen? Verpflichtende Regelungen wie der US Physician Sunshine Act wären sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Das Problem greift aber weitaus tiefer. Verordnungen sind nur der letzte Schritt in einem komplexen Prozess. Viele Ärzte, die an deutschen Leitlinien mitarbeiten, erhalten Zahlungen von Herstellern. Und dann gibt es noch die Fortbildungspflicht für Fachärzte. Zahlreiche Kurse, Kongresse oder Konferenzen sind nur durch Finanzspritzen der Industrie möglich. In beiden Fällen müssten Gesundheitspolitiker oder Standesvertreter für neutrale Finanzquellen sorgen, etwa über spezielle Fonds.