Der Mangel macht's möglich. Weil besonders im Osten und in ländlichen Gebieten immer mehr Gebrechliche auf immer weniger Ärzte treffen, sollen Hilfskräfte Aufgaben des Hausarztes übernehmen. Werden sie zu einer Bedrohung das Arztberufs?
Der Bayrische Ärztetag fand vor drei Jahren deutliche Worte für Helfer, die scheinbar zu Konkurrenten der Mediziner geworden waren. Vorstandsmitglied Wolfgang Krombholz nannte die Aus- und Weiterbildungskonzepte „Generalangriffe auf das ärztliche Berufsbild, die auf den Kompetenzerweiterungen für nichtärztliche Gesundheitsberufe beruhen“.
AGnES, EVA und VERAH
AGnES war das Ziel des Gegenangriffs. Hinter dem harmlosen Mädchennamen verbirgt sich eine Helferin, die auf Weisung des Arztes seinen Patienten Hausbesuche abstattet. In unterversorgten Gebieten, zuerst auf der Insel Rügen, inzwischen aber auch in vielen anderen Regionen der neuen Bundesländer, schauen sie und ihre Kolleginnen besonders nach älteren Kranken, messen Blutdruck und Puls oder nehmen Blut ab. AGnES steht für „Arzt-entlastende, Gemeinde-nahe, E-Healthgestützte, Systemische Intervention“. In der Modellphase lief das Projekt so gut, dass die Pflegekraft auf Rädern noch weitere Kompetenzen bekommt. In Brandenburg soll zu den Aufgaben noch die soziale Betreuung der Patienten als Fallmanagerin kommen. Das haben die KV, AOK und Barmer beschlossen.
Auch westliche Bundesländer wollen Ärzte von immer mehr zeitaufwändigen Pflichten entbinden. Unter Mitarbeit des Hausärzteverbands wird nach einer Weiterbildung aus der Medizinischen Fachangestellten die Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis (Verah) oder EVA, die entlastende Versorgungsassistentin.
Immer weniger Ärzte für immer mehr Kranke
Hintergrund der vielen Initiativen ist der immer größere Ärztemangel - besonders auf dem Land in vermeintlich unattraktiven Gebieten. Die ZEIT zitiert Wolfgang Hoffmann von der Universität Greifswald: „Die wenigen Ärzte, die in fünf bis zehn Jahren übrig bleiben, brauchen Unterstützung.“ Und Landrat Dieter Harrsen vom Kreis Nordfriesland ist sich sicher: „Wo keine Ärzte sind, wird sich die Bevölkerung verabschieden.“ Die Zahlen der KBV und BÄK: etwa 52000 Ärzte allein im ambulanten Bereich suchen einen Nachfolger, davon sind knapp die Hälfte Hausärzte. Kassenmanager meinen dagegen, dass es genug Ärzte in Deutschland gäbe, sogar mehr als noch vor einigen Jahren. Das Problem sei allein die Verteilung.
Bis Mitte des Jahres soll es, so die Nachrichten aus dem politischen Berlin, ein Versorgungsgesetz geben, mit dem gegen die Schief- oder Notlage angegangen wird. Dass es allein aufgrund der Demographie einer alternden Bevölkerung dringenden Versorgungsbedarf gibt, zeigen die Zahlen aus Greifswald. 91% mehr Fälle an Demenz bis zum Jahr 2020, ein Drittel mehr Diabetiker und Darmkrebs-Patienten. Bei einer extrem hohen Nachfrage wird auch eine ökonomische Nutzung der Arzt-Zeit immer wichtiger. „Bisher verbringen die Hausärzte zehn bis fünfzehn Prozent ihrer Arbeitszeit im Auto“, so Hoffmann.
„Die kann das wie ich.“
Dabei sollen die neuen Helfer den Arzt keineswegs ersetzen. Beim Deutschen Ärztetag 2008 in Ulm waren sich die Teilnehmer einig, dass Anamnese und Diagnose, Therapieentscheidung und Aufklärung des Patienten - etwa vor Operationen - Sache des Arztes sind und bleiben müssen. Auch die Patienten wollen vorerst zumindest nicht den vollen Arzt-Ersatz. Ein Drittel der Befragten des „Gesundheitsmonitors“ der Bertelsmann-Stiftung sind gegen die Delegation von ärztlichen Tätigkeiten. Dabei ist es ja nicht so, dass die Arzthelferin aus der Praxis einmal kurz ins Auto steigt und Hausbesuche absolviert. Hinter „AGnES“ steht eine gründliche Ausbildung: 622 Stunden Theorie und 200 Stunden Praktikum sollen es entsprechend dem Curriculum der Greifswalder Gesundheitsstrategen sein.
Das Projekt ist das bisher einzige, das wissenschaftlich evaluiert wurde. Ärzte und Patienten akzeptieren inzwischen, dass der Doktor nur mehr selten persönlich beim Patienten vorbeikommt. 92 Prozent der Ärzte stimmten der Aussage auf dem Evaluierungsbogen zu: „Die kann das wie ich.“ Mit der Gewöhnung an die neue Rolle der Arztassistentinnen steigt aber auch die Zufriedenheit der Patienten. Das zeigen mehrere Untersuchungen aus England. Besonders bei kleineren Erkrankungen schätzen die Behandelten das Mehr an Zeit und Zuwendung. Wie die Greifswalder errechnet haben, muss AGnES jetzt auch nicht öfter raus früher ihr Chef. Die Zahl der Hausbesuche blieb in etwa gleich, der Arzt war jedoch deutlich seltener unterwegs als noch vor 2006.
Delegieren, nicht ersetzen!
Nach dem Erfolg von AGNeS wollen jetzt auch andere Medizin-Sparten Entlastung für die akademischen Mediziner. Die Asklepios-Kliniken setzen auf den chirurgischen OP-Assistenten (COA), der Wunden zunäht, desinfiziert und auch bei der Vor- und Nachbehandlung der Operation mithilft. Bei Langzeit-OPs sollen COAs die zweite Assistenz übernehmen. Kritik kommt dabei jedoch von Assistenzärzten, die um ihre Facharzt-Weiterbildung fürchten. Ganz ähnliche Aufgaben kommen auch auf einen chirurgisch-technischen Assistenten (CTA) zu - ein Modell, das Kliniken im Rheinland erproben. Lehrgeld mit neuen Berufsbildern musste jedoch die Helios-Klinik in Erfurt bereits 2005 zahlen. Bei einer Operation machte ein MAfA (medizinischer Assistent für Anästhesie) bei der Narkose einen Fehler und der Patient erlitt eine Gehirnschädigung. Das Votum der entsprechenden Fachgesellschaften bestimmte, dass die Anästhesievorbereitung und -durchführung keine delegierbaren Tätigkeiten seien. Zwei Jahre später endete das MAfA-Ausbildungsprojekt.
Wenn es statt der Arzt-Entlastung eher um die Kosteneinsparung geht, die Kliniken und Kassen vorantreiben, ist die Gefahr von Unfällen und wachsender Unzufriedenheit bei den Patienten groß. So gelang es den Kassen, die Pauschale für die mobilen Hilfskommandos um rund ein Viertel zu senken, die Weiterbildungsanforderungen sogar um zwei Drittel. Ob das Modell dann noch so effektiv ist, bezweifeln viele. Gut organisiert scheint sich aber besonders die technisch-unterstützte Teamarbeit durchzusetzen. "Das deutsche System war hinsichtlich der Arbeitsteilung zwischen Arzt und Schwester regelrecht rückständig", sagt Wolfgang Hoffmann in der ZEIT. „Bis vor zwei Jahren durften Schwestern nicht einmal außerhalb der Rufweite des Arztes behandeln. Hausbesuche lagen in einer rechtlichen Grauzone. Um in unserem AGnES-Forschungsprojekt Rufweite zwischen Arzt und Schwester herzustellen, war eine Videokonferenz nötig". Doch die Zahlen bestätigen den Erfolg der vielen Mühe nach rund fünf Jahren AGnES“: 98 Prozent Zustimmung von den Patienten.