Amerikanische Wissenschaftler haben schwere genetische Fehler in induzierten pluripotenten Stammzelllinien und humanen embryonalen Stammzellen erkannt. Jetzt warnen sie vor einem klinischen Einsatz der Methode.
Bereits vor einem Jahr geriet die Stammzelltherapie in Verdacht, unter Umständen Krebs auszulösen. Erst im November 2009 hatte US-Präsident Barack Obama das Stammzellforschungsmoratorium in den USA aufgehoben – doch eine Neubewertung scheint angebracht.
Es kommt selten vor, doch in diesem Fall kann man die Aussage ohne Vorbehalte machen: Die Forschung mit pluripotenten Stammzellen hat einen massiven Rückschlag erlitten - der schlimmstenfalls zum Aus für den bisherigen Hoffnungsträger der regenerativen Medizin führen könnte. Tatsächlich konnten Forscher an der University of California, San Diego School of Medicine und des Scripps Research Institute schwere genetische Abnormalitäten in pluripotenten Stammzelllinien nachweisen. Danach weisen humane embryonische Stammzellen (hESC) und induzierte pluripotente Stammzellen (iPSC) häufiger Genom-Aberrationen auf als ihre normalen Zellpendants. Die Studie mit dem Originaltitel "Dynamic changes in the copy number of pluripotency and cell proliferation genes in human ESCs and iPSCs during reprogramming and time in culture" erschien am 7. Januar 2011 im Fachblatt "Cell Stem Cell" und markiert womöglich einen Wendepunkt. Denn das bittere Fazit lautet: Bisherige Überwachungen für die fraglichen Stammzelllinien übersahen weltweit das Problem - weil man auf die falschen Analysetools setzte.
Neurale Stammzellen - Vielfältig einsetzbar
Für die Stammzellforschung ist das ein weiterer schwerer Rückschlag, doch die Ergebnisse kommen nicht wirklich überraschend. Bereits im Jahr 2009 berichtete eine israelische Forschergruppe über die Entwicklung von Hirntumoren aus transplantierten neuralen Stammzellen. "Diese Beobachtung ist ohne Zweifel ein Rückschlag für die Entwicklung zellbasierter Therapien mit neuralen Stammzellen zur Korrektur definierter genetischer Defekte", beurteilte damals Michael Weller von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Allerdings sei die Forderung nach einem generellen Verzicht auf zellbasierte Therapien aufgrund dieses Rückschlags nicht gerechtfertigt, so der Direktor der Neurologischen Klinik am Universitätsspital Zürich weiter.
In dem Fall, der unter Fachleuten für Furore sorgte, ging es um einen kleinen Jungen. Der 9-Jährige litt am Louis-Bar-Syndrom und war in Moskau mehrmals mit neuralen Stammzellen behandelten worden.
Neurale Stammzellen, die im Rahmen von Aborten aus menschlichen Feten gewonnen werden, gelten nicht nur als potenziell für die Korrektur vererbter Erkrankungen geeignet. Als therapeutische Alternative bei häufigeren neurologischen Erkrankungen wie Schlaganfall, Parkinson-Erkrankung oder Multiple Sklerose schienen sie ebenso geeignet.
Herber Rückschlag für Stammzelltherapie
Dennoch wurden hier deutliche Risiken offensichtlich. So gilt die Entwicklung von Tumoren aus den transplantierten Stammzellen, deren biologisches Entwicklungspotenzial schwer vorhersagbar und noch unzureichend verstanden ist, als ungelöstes Problem.
Die Krankengeschichte des jungen Patienten belegte, dass diese Sorgen berechtigt sind: Vier Jahre nach Beginn der Injektion neuraler Stammzellen in Gehirn und Liquorraum zeigten sich mehrere, langsam wachsende Tumoren. Ein operativ entfernter Tumor entsprach am ehesten einem glioneuralen Tumor. Dass das Tumorgewebe des betroffenen Patienten von den transplantierten Zellen, sogar mindestens von zwei "Spendern" abstammte, wurde durch molekularbiologische Methoden zweifelsfrei belegt.
"Diese Beobachtung ist ohne Zweifel ein Rückschlag für die Entwicklung zellbasierter Therapien mit neuralen Stammzellen zur Korrektur definierter genetischer Defekte", erklärte Michael Weller, Direktor der Neurologischen Klinik am Universitätsspital Zürich und von 2001 bis 2008 Sprecher der Neuroonkologischen Arbeitsgemeinschaft (NOA) der Deutschen Krebsgesellschaft den Vorfall.
Weller zufolge zeigte der Fall zwar, wie dringend erforderlich internationale Bemühungen um eine Standardisierung und Optimierung von Stammzelltherapien seien. Die Forderung nach einem generellen Verzicht auf zellbasierte Therapien sah der Mediziner jedoch als unbegründet an.
Aktuelle Studie verstärkt generelle Zweifel an Stammzelltherapie
Die jetzige US-Publikation jedoch liefert zusätzliche Indizien, wonach Stammzellen das gleiche Schicksal drohen könnte wie einst der Gentherapie. Denn laut Studienleiterin Louise Laurent, die als Professorin am UCSD Department of Reproductive Medicine arbeitet, kommen in den untersuchten hESCs erhebliche Duplikationen vor, während die iPSCs durch erhebliche Deletionen auffallen.
Sichtbar wurden die Unterschiede zu normalen Zelllinien erst mit Hilfe der single nucleotide polymorphism Analyse (SNP), während das üblicherweise in Kliniken und Forschung eingesetzte Karyotyping versagte.
Ärzte, so hat es den Anschein, werden schon jetzt umdenken, wenn sie Laurent folgen: "Wir wissen nicht, welche Auswirkungen diese genetischen Veränderungen auf potenzielle klinische Anwendungen haben können, aber wir müssen das herausfinden".