Geht es um sexuellen Missbrauch, stehen derzeit meist Angehörige zweier Berufsgruppen im Fokus – Lehrer und Geistliche. Doch auch Therapeuten können zum potenziellen Täter werden. Die Dunkelziffer gilt als groß, denn zu viele Betroffene sind im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos.
An drei Patientinnen soll angeblich ein 50-jähriger Mediziner „sexuelle, missbräuchliche Handlungen“ vorgenommen haben, meldete kürzlich die „Augsburger Allgemeine“. Zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe „wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses sowie Körperverletzung“ wurde im Juli 2010 ein 54-jähriger Allgemeinmediziner vom Amtsgericht Tiergarten verurteilt.
Nur Schätzungen zur Häufigkeit
Über die Häufigkeit von Missbrauch durch Therapeuten gebe es für Europa keine verlässlichen Daten, schreiben Irina Franke und Professorin Anita Riecher-Rössler von den Psychiatrischen Kliniken in Basel. Schätzungen beruhten auf einer kanadischen Umfrage von 1991. Danach sei in Deutschland von etwa 165.000 Betroffenen jährlich auszugehen, „die einen sexuellen Übergriff und eine sexuell gefärbte Handlung oder Bemerkung durch eine Fachperson aus dem Gesundheitswesen erlebten“.
Haftstrafen bis zu fünf Jahren
Definiert wird „professioneller sexueller Missbrauch“ (PSM) nach Angaben von Franke als eine sexuelle Handlung „im Rahmen von fachlichen Auftragsverhältnissen bzw. Beziehungen“. Dazu zählten zum Beispiel: vaginale Penetration, genitale Stimulation, Berühren von Geschlechtsorganen, Küssen und auch voyeuristische oder exhibitionistische Handlungen, Zeigen pornografischen Materials, sexistische verbale Äußerungen sowie Frotteurismus (ein Frotteur ist ein Mensch, der sich sexuell stimuliert, indem er sich an anderen Menschen reibt, etwa in überfüllten U-Bahnen). Laut §174c Strafgesetzbuch können solche Handlungen mit Freiheitsstrafen von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft werden.
Fast jeder ein potenzielles Opfer
Opfer solcher Handlungen kann im Grunde jeder werden, der einen Therapeuten oder eine Therapeutin aufsucht. Nach Daten aus den USA und den Niederlanden sind überwiegend Frauen die Opfer von Männern (in bis zu über 90 Prozent der Fälle), deutlich seltener ist ein Mann Opfer einer Frau. Wenn Frauen die Täter sind, ist das Opfer laut Franke allerdings fast immer ebenfalls eine Frau. Motive der Täter oder Hintergrund der Tat können persönliche Lebensumstände „in Kombination mit ethischen Defiziten in der Berufsauffassung“ oder psychische Störungen sein. In mehr als der Hälfte der PSM-Fälle leide der Täter unter einer oder mehreren gravierenden psychischen und/oder psychosexuellen Störungen. Oft, so Franke, bestehe ein ausgeprägter Narzissmus.
Große Wiederholungsgefahr
Laut der Münchener Ärztin für Psychosomatische Medizin Dr. Veronika Hillebrand sowie dem Diplompsychologen Benedikt Waldherr aus Landshut kommt sexueller Missbrauch nicht, wie manchmal angenommen, nur oder überwiegend in der Psychotherapie vor. Auch in „anderen Bereichen der Medizin, zum Beispiel bei Frauenärzten oder Allgemeinärzten gebe es das Phänomen des sexuellen Missbrauchs professioneller Beziehungen in 'erstaunlich hohem Ausmaß'". Die Quote an Wiederholungstaten liege bei 80 Prozent. In aller Regel seien Männer die Täter bei den Wiederholungstaten.
Schwerwiegende Folgen - für die Opfer
„In ca. 90 Prozent der PSM-Fälle erleidet das Opfer erhebliche und anhaltende Schäden“, erklärt Franke. Die seelischen Folgen für die Opfer können gravierend sein. Sie reichen von Scham, Schuldgefühlen, einem die Täter schützenden Sprachverlust (auch durch eine zeitweise Störung des motorischen Sprachzentrums) bis hin zu völligem sozialen Rückzug und sogar Suiziden. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Patientin oder ein Patient darüber spricht, sei gering. Nur wenige Betroffene gingen juristisch gegen die Täter vor, so auch Privatdozentin Dr. Christiane Eichenberg von der TU Ilmenau. Wenn es doch zu einer Anzeige kommt, dann gilt wohl generell, was kürzlich die Journalistin Susanne Graf in der „Berner Zeitung“ zur Situation in der Schweiz geschrieben hat: „Nimmt eine Patientin Anstoß am Verhalten ihres Arztes, kann sie bei der Ärztegesellschaft ein Standesverfahren in Gang setzen. Doch die Wirkung ist oft dürftig. Wenn ein Arzt sich vergreife, habe er von der Standeskommission der FMH (Berufsverband der Schweizer Ärzteschaft, Anm. der Redaktion) nur wenig zu befürchten, sagen Kritiker.“ Auch Franke trifft hier eine recht harte Aussage: „Es gibt kaum Möglichkeiten für betroffene Patienten, angemessene therapeutische und juristische Unterstützung zu finden.“ Denn noch immer erscheine der Umgang mit PSM durch eine „anhaltende Tabuisierung und mitunter auch Verharmlosung charakterisiert“ zu sein.
Eine 2009 veröffentliche Umfrage unter den Mitgliedern der „World Psychiatric Association“ zum Vorhandensein einer staatlichen Gesetzgebung und Positionierung der jeweiligen psychiatrischen Gesellschaften sowie zum Vorhandensein von spezifischen Regularien habe da wenig Erfreuliches offenbart: Nur 51 Prozent der befragten Fachgesellschaften aus 109 Ländern hätten sich an der Umfrage beteiligt. Die Hälfte der Teilnehmer gab laut Franke an, in ihrem Land gebe es keine unmittelbare Meldepflicht, wenn ein Arzt von sexuellen Übergriffen eines Kollegen erfahre. Nur ein kleiner Teil der Fachgesellschaften habe mitgeteilt, dass für Opfer und/oder Täter eine Behandlung zur Verfügung stehe. Deutschland war 1998 das einzige europäische Land, das mit dem §174c StGB ein Verbot jeglichen sexuellen Kontaktes in einer Psychotherapie gesetzlich verankerte. Allerdings sei „das Vorhaben, auch andere ärztliche Disziplinen in das Gesetz einzuschließen“, gescheitert.
Null-Toleranz ein Muss
Eine Positionierung der Ärzteschaft, vor allem der psychotherapeutisch tätigen Ärzte, erscheine daher sehr wichtig. Wichtige Ziele außer einer Sensibilisierung seien Prävention, Richtlinien zum Umgang mit Opfern und Tätern sowie Integration der Thematik in die medizinische Aus- und Weiterbildung sowie in den öffentlichen Diskurs. Notwendig seien eine Meldepflicht, strukturierte Beratungs- und Hilfsangebote sowohl für die Opfer wie für die Täter. Und: Wie in Kanada, den USA, Neuseeland und Australien müsse „die Aufrechterhaltung einer Null-Toleranz-Haltung durch die Rechtsprechung verankert und gewährleistet werden“ - so wie bei jeder anderen Straftat eben auch.