Medizin ist eines der anspruchvollsten Studiengänge weltweit - viel Lernstoff, lange Unizeiten und ein insgesamt langes Studium nagen an den Nerven. Sind Medizinstudenten prädestiniert für psychische Störungen?
Humanmedizin zählt nicht ohne Grund weltweit zu den schwierigsten Studiengängen. Während des Semesters ist der Stundenplan prall gefüllt und auch in den vorlesungsfreien Zeiten ist durch Famulaturen an Urlaub oder Entspannung kaum zu denken. Kein Wunder also, dass mitunter auch die Seele leidet und manch Einer sogar eine ersthafte Depression entwickelt.
Leistungsdruck und 80 Stunden-Woche
Vorlesungen bis in die Abendstunden, Prüfungen im Wochenrhythmus, Famulaturen in den Semesterferien. Dass die Ärzte von morgen dieser enormen Belastung nicht immer standhalten können, zeigt auch eine aktuelle Studie1 der Universität Leipzig. Dabei wurden 390 Medizinstudierenden auf 8 verschiedene psychische Störungen hin untersucht und mit einer altersgleichen Stichprobe aus der Normalbevölkerung verglichen. Die Auswertung ergab, dass die Studierenden mit 4,29% gegenüber 2,59% eine deutlich höhere Stressbelastung berichteten und zudem auch häufiger unter den meisten abgefragten Störungsbildern litten. Beispielsweise zeigten 6,9% Anzeichen einer Major Depression, wobei nur 0,9% der Vergleichsstichprobe unter entsprechende Beschwerden litten. Da depressive Symptome, Ängste und somatoforme Störungen auf den Beschwerden-Rankings ganz oben standen, sind in Zukunft weitere Studien nötig, um die Bedeutung des Medizinstudiums für Entwicklung psychischer Störungen genauer unter die Lupe zu nehmen.
Blick über die Ländergrenze
Schaut man auf andere Länder, kommen aktuelle Erhebungen leider zu ähnlichen Ergebnissen. So werden in den USA, Schweden und Bosnien-Herzegowina hohe Prävalenzen depressiver Störungen bei Medizinstudierenden berichtet. Erschreckende Zahlen kommen außerdem aus Frankreich: hier leiden 16% aller weiblichen und 6% aller männlichen Medizinstudierenden unter klinisch relevanten Depressionen, sodass es bereits als erste Interventionsmaßnahme ein spezielles Gesundheitsscreening für Studienanfänger gibt. Es liegt demnach eine ernst zu nehmende Entwicklung vor, die zusammen mit Ärztemangel und den Problemen unseres Gesundheitssystems den Arztberuf für künftige Generationen nicht gerade attraktiver werden lässt.
Obgleich zweifelsohne Handlungsbedarf besteht, gibt es in Deutschland bislang keine nennenswerten Präventionsprogramme. Ganz anders ist die Lage dagegen in den USA. Hier hat die American Medical Student Association (AMSA) bereits mehrere Aktionen ins Leben gerufen, die unter dem Titel "Lunchtime Wellbeing Projects" durch verschiedene Gruppentreffen und Workshops den Start ins Studentenleben erleichtern sollen. So gibt es auf der Homepage ein vielfältiges Angebot an local projects in a box, die den Studierenden anhand von Materialien und Anleitungen die Organisation von lokalen Treffen und Events erleichtern sollen. Diese Events umfassen neben Präsentationen von erfahrenen Kommilitonen über bestimmte Themen auch Gruppenaktivitäten im Coffee-Shop und fördern vor allem den gegenseitigen Erfahrungsaustausch. Ob es objektiv nachweißbare positive Langzeiteffekte gibt, wurde zwar noch nicht explizit untersucht, dennoch können gemeinsame Interessen und Aktivitäten mit Sicherheit vor Einsamkeit bewahren und bieten Betroffenen die Chance, mit Gleichgesinnten auch schwierige Themen wie Depressionen offen anzusprechen.
“Your first patient is YOU!”
Um also einer "Talfahrt" der seelischen Gesundheit erfolgreich entgegensteuern zu können, muss zuallererst das Tabuthema Depression an die Oberfläche geholt werden. Um eine Antwort auf das "wieso?" der jüngsten seelischen Entwicklung junger Studierender zu bekommen, sollten die Betroffen selbst einmal die Stimme heben. Welche Merkmale des Medizinstudiums werden als besonders belastend empfunden? Und wie lassen sich die Lernbedingungen langfristig lebensfreundlicher gestalten? Die lobenswerten Aktionen der AMSA unter dem Motto "Your first patient is you!" ist bei diesen noch offenen Fragen ein hoffnungsvoller erster Schritt zur Besserung.
Erste Hilfe für Betroffene
Was aber kann ich tun, wenn der offene Dialog nicht mehr hilft und ich selbst von Lernstress und depressiven Stimmungen betroffenen bin? Erste Hilfe finden Betroffene u.a. bei den entsprechenden Beratungsstellen der Studentenwerke. So lohnt sich beispielsweise ein unverbindlicher Gesprächstermin bei einer der 42 psychologischen Beratungsstellen, die sich speziell an Studierende richten. Weitere Infos hierzu sind auf der Homepage www.studentenwerke.de zu finden. Und sollte sich bei solch einem Gespräch der Hinweis auf eine klinisch relevante Depression erhärten, kann der Beginn einer Psychotherapie einen wertvollen Betrag zu baldigen Genesung leisten. Denn nur ein ausgeglichener und gesunder Geist kann genug Energie entwickeln, um ein anspruchsvolles Studium zu meistern und als Arzt oder Ärztin kranken Menschen zur Gesundung zu verhelfen.
Quellen
1 Seliger K, Brähler E (2007): Psychische Gesundheit von Studierenden der Medizin. Eine empirische Unter-suchung. Psychotherapeut 52:280–286.