Versagen alle Sicherheitssysteme eines Kernkraftwerks, gelangen verschiedenste radioaktive Stoffe in die Umwelt. Über die Nahrungskette wandern diese in den Körper und sammeln sich je nach Reaktivität in bestimmten Organen. Ein Überblick.
Bei einer Kernschmelze werden chemisch unterschiedliche Spaltprodukte des Urans frei gesetzt. Während sich gröbere Partikel meist nur in der unmittelbaren Nähe einer havarierten Anlage niederschlagen, transportieren Wind und Wasser Gase oder lösliche Stoffe hunderte Kilometer weit. Über die Luft, das Trinkwasser bzw. die Nahrungskette gelangen Isotope schließlich in Magen und Darm und damit in den Blutkreislauf. Auch durch die intakte Haut können fettlösliche Stoffe die Barrieren des Körpers passieren. Je nach chemischem Verhalten sammeln sich die Isotope in bestimmten Organsystemen. Nicht resorbierbare Radionuklide hingegen werden vom Verdauungssystem unverändert ausgeschieden. Ihre Schadwirkung begrenzt sich auf die Zeit der Magen-Darm-Passage.
Halbwertzeit
Zwei Vorgänge bestimmen das Schicksal radioaktiver Kerne: Innerhalb der physikalischen Halbwertszeit zerfallen 50 Prozent zu teilweise stabilen Atomsorten. Hingegen beschreibt die biologische Halbwertszeit einen Zeitraum, den der Körper braucht, um durch Ausscheidungsprozesse die Zahl der radioaktiven Spezies zu halbieren. Während die physikalische Halbwertszeit immer gleich bleibt, hängen entsprechende biologische Vorgänge vom Geschlecht, von den Ernährungsgewohnheiten, vom Alter bzw. vom Körpergewicht ab.
Iod-131
Beim regulären Betrieb eines Reaktors sammeln sich flüchtige Iod-Isotope in Zwischenräumen der Brennstäbe an. Kommt es zum Störfall, entweicht radioaktives Iod als einer der ersten Stoffe ins Freie. Nach dem Abregnen gelangt die strahlende Fracht vor allem in Blattgemüse und über Futterpflanzen in Milch und Milchprodukte. Über die Nahrung aufgenommen, reichert sich das Isotop Iod-131 (131I) wie normales Iodid in der Schilddrüse an. Das Organ selbst ist auf die regelmäßige Zufuhr des entsprechenden Salzes angewiesen, um Hormone herzustellen. Gelangt 131I in die Zellen der Schilddrüse, nehmen die Elektronen aus dem Beta-Zerfall das Organ von innen unter Beschuss. Zwar zerfallen die Strahler mit rund acht Tagen relativ rasch. Aufgrund der festen Bindung im Schilddrüsengewebe geben Strahlenmediziner 80 Tage als biologische Halbwertszeit an.
Zahlreiche Studien beweisen mittlerweile Schilddrüsenkrebs als Folge einer entsprechenden Inkorporation vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Belege fanden Epidemiologen in Hiroshima und Nagasaki sowie in Tschernobyl. Besonders betroffen waren vor allem Gebiete, in denen durch Niederschläge große Mengen des radioaktiven Iods als Fallout ausgewaschen worden sind. Bund und Länder haben auf diese Bedrohung reagiert. Für den nuklearen Ernstfall liegen in der Nähe von Kernkraftwerken Notfalldepots mit hoch dosierten Kaliumiodid-Tabletten bereit. Rechtzeitig eingenommen, soll die Resorption von 131I dadurch vermieden werden. Kollegen warnen aber vor der momentan unnötigen Prophylaxe: Ein Iodidstoß kann bei entsprechender Vorbelastung auch zu Symptomen einer Schilddrüsenüberfunktion führen.
Caesium
Große Mengen an Caesium-134 (134Cs) und Caesium-137 (137Cs) gelangten vor allem durch den Unfall von Tschernobyl in die Umwelt, und durch die damaligen Windrichtungen landete das Isotop in halb Europa. Vor allem Milch und Milchprodukte führten zu einer nennenswerten Belastung der Bevölkerung. Und Waldpilze mit ihren teils recht ausgeprägten Myzelien saugen den Strahler regelrecht aus der verwesenden organischen Materie des Bodens. Schweine und Rehe wiederum verspeisten diverse Pilze und konzentrieren quasi die Nuklide im Körper. Caesium kommt im Körper normalerweise nicht vor, wird aber vom Magen-Darm-Trakt auf Grund der Ähnlichkeit zu Kalium gut resorbiert. Nach der Aufnahme im Gastrointestinaltrakt sammelt sich Caesium bei Mensch und Tier vor allem im Muskelgewebe.
Mit einer Halbwertszeit von rund 30,17 Jahren erweist sich diese Kernsorte deutlich langlebiger als andere Zerfallsprodukte. Die biologische Halbwertszeit beträgt etwa 110 Tage. Noch heute finden Physiker eine entsprechende Belastung, die aber stetig annimmt, da Caesium in tiefere Bodenschichten wandert. Damit verringert sich die Bioverfügbarkeit deutlich. Sowohl 137Cs als auch 131I können Aerosole bilden, die in der Atmosphäre hunderte oder teilweise tausende Kilometer weit getragen werden, bevor sie der Regen auswäscht.
Strontium-90
Strontium-90 (90Sr) , chemisch mit Calcium verwandt, wird mit der Nahrung in den Körper aufgenommen, und zu etwa 70-80% wieder ausgeschieden. Der verbleibende Rest lagert sich in den Knochen ein. Nur etwa 1% verbleiben im Blut und im Weichteilgewebe. Gefährlich ist die Aufnahme vor allem, da das Isotop eine recht lange physikalische Halbwertszeit von rund 29 Jahren hat. Die biologische Halbwertszeit liegt aufgrund der festen Bindung in der Knochensubstanz sogar bei knapp 50 Jahren. Einmal in den Körper gelangt, zerfallen die instabilen Atomkerne unter Aussendung energiereicher Elektronen, die entsprechende Zellen verändern können. Mögliche Folgen sind Veränderungen des blutbildenden Systems (Leukämie), sowie Knochentumoren. Medizinisch lässt sich relativ wenig unternehmen, um den Strahler zu eliminieren: Komplexbildner, wie sie oft bei Schwermetallvergiftungen eingesetzt werden, binden nämlich knocheneigenes Calcium deutlich besser als Strontium. Die Exposition gegenüber 90Sr kann durch einen Bioassay des Urins quantifiziert werden.
Xenon
Bei der Spaltung von Uran im Reaktor bilden sich außerdem radioaktive Edelgase, etwa Xenon-133 (133Xe) oder Xenon-135 (135Xe), die mit der Atemluft in die Lungen gelangen können. Schätzungsweise die Hälfte der freigesetzten Strahlung aus Tschernobyl ist auf dieses Isotop zurückzuführen. 135Xe zerfällt innerhalb von Stunden zu radioaktiven Caesiumkernen–Feststoffe, die in den feinsten Strukturen der Atmungsorgane hängen bleiben. Passiert diese Umwandlung in der Luft, können entsprechende Partikel als Fallout abregnen.
Plutonium
Plutonium (Pu), eines der schlimmsten Umweltgifte, schädigt bereits in geringsten Mengen den Körper. Es ist nicht nur in seiner Eigenschaft als Schwermetall giftig, sondern auch ein besonders aktiver Alpha-Strahler. Bereits geringste Mengen im Mikrogrammbereich führen zur Entstehung von Krebs. Das Nuklid sammelt sich vor allem in der Leber, den Knochen und den Lymphknoten an. Gelangen feine Partikel in die Lunge, kann auch dieses Organ durch die entsprechende Alpha-Strahlung nachhaltig geschädigt werden. In größerer Entfernung zum Ort eines Störfalls spielt Plutonium eher eine untergeordnete Rolle, plutoniumhaltige Stäube können aber lokal mit dem Wind über eine große Fläche verteilt werden. Ein Problem ist die lange Halbwertzeit einzelner Plutoniumisotope: 240Pu zerfällt beispielsweise mit einer Halbwertszeit von über 6.000 Jahren.
Messen nicht vergessen
Nuklide, die erst einmal ihr Zielorgan im Körper erreicht haben, sind kaum mehr eliminierbar. Deshalb zielen Strahlenschutzmaßnahmen vor allem darauf ab, den Kontakt mit radioaktiven Isotopen zu vermeiden. Das ist jedoch nur möglich, solange die Nahrungsmittel und der tägliche Lebensraum nicht kontaminiert sind.