Dass Profi-Boxen für das Hirn auf Dauer keine Wohltat ist, gilt als gesichert. Unklar ist, ob nicht auch andere Sportarten zu neurodegenerativen Hirnschäden führen können. Diskutiert wird derzeit vor allem „American Football“. Aber noch gibt es überwiegend Anekdoten.
Chronisch traumatische Enzephalopathie (CTE) heißt eine neurodegenerative Erkrankung mit neurologischen und psychischen Symptomen, als deren externe Ursache - ganz allgemein - gehäufte Gewalteinwirkung auf den Kopf gilt. Die Rede ist dabei allerdings nicht von einem schweren Schädel-Hirn-Trauma mit intrakraniellen Blutungen etwa, sondern von einem eher milden Trauma, im Angelsächsischen auch als „Concussion“ bezeichnet. Definiert wird eine „Concussion“ als traumatische Hirnschädigung durch eine plötzliche, direkte oder auch indirekte Gewalteinwirkung auf den Kopf, das Gesicht oder auch die Halswirbelsäule.
Die Symptome sind sehr vielfältig, sie reichen von Bewusstlosigkeit über Schwindel, Kopfschmerzen, kognitive Defizite bis hin zu Verhaltensstörungen, Schlafstörungen und Depressionen. Dass häufige „Concussions“ zu chronischen Hirnschäden führen können, wird seit langem vermutet. Bereits 1928 beschrieb der US-Pathologe Harrison Martland aus New Jersey im „JAMA“ neurologische Störungen bei Boxern als „punch drunk“, 1937 wurde der Begriff der „Dementia pugilistica“ eingeführt.
Aufsehen erregende Todesfälle unter Ex-Sportlern
Die US-amerikanische Fachzeitschrift „Clinics in Sports Medicine“ hat nun dem Thema ein ganzes Heft gewidmet; in Boston gibt es mit dem „Center for the Study of Traumatic Encephalopathy“ (CSTE) seit drei Jahren sogar ein spezielles Forschungszentrum zur CTE. Hintergrund für das aktuelle Interesse der Wissenschaftler an dem Thema sind unter anderem Erkrankungs- und auch Todesfälle bei ehemaligen Profi-Sportlern. So starb zum Beispiel 2010 im Alter von nur 45 Jahren der ehemalige kanadische Eishockey-Profi Bob Probert, der als sehr ruppiger Spieler galt. Probert starb an Herzversagen, aber die Obduktion am CSTE ergab den Befund einer CTE.
Und vor wenigen Wochen erst nahm sich der 50-jährige, wahrscheinlich depressive Ex-Football-Spieler Dave Duerson das Leben. In einem Abschiedsbrief bat er, sein Gehirn der „CSTE Brain Bank“ zur Verfügung zu stellen, die von der US-Football-Liga finanziert wird und am „Bedford VA Medical Center“ (Boston, Massachusetts) angesiedelt ist. Wissenschaftlich betreut wird diese Gewebebank von Dr. Ann McKee, Ko-Direktorin des CSTE, die mit ihren Kollegen seit mehreren Jahren schon das Hirngewebe von gestorbenen Sportlern auf Zeichen einer CTE untersucht. Mit ein Grund für das verstärkte Interesse ist aber auch, dass Schädel-Hirn-Traumen oder „Concussions“ in den letzten beiden Jahrzehnten möglicherweise zugenommen haben.
Dies kann laut Dr. Daniel H. Daneshvar vom Alzheimer-Zentrum der „Boston University School of Medicine“ eine scheinbare Zunahme sein - als Folge einer verbesserten Diagnostik, aber auch eine reale, da es häufiger zu Kollisionen zwischen Sportlern komme und die Gewalteinwirkung gestiegen sei. Frauen seien übrigens häufiger von einem solchen SHT betroffen und litten später auch öfter als Männer an neurologischen und psychischen Folgen, erklärt Dr. Tracey Covassin von der „Michigan State University“. Ursache dafür seien möglicherweise unterschiedliche biomechanische Verhältnisse, aber eventuell auch, dass Männer Verletzungen häufiger verschwiegen, spekuliert Daneshvar.
Chronische Schäden nur bei Profi-Boxern gesichert
Obwohl chronische Hirnschäden als Folge häufiger Schädel-Hirn-Verletzungen seit über 80 Jahren bekannt sind oder diskutiert werden, ist Vieles noch unklar. Laut dem in Nashville niedergelassenen Neuropsychologen Dr. Gary S. Solomon sind die meisten vorhandenen Studien hierzu widersprüchlich und zum Teil auch nur eingeschränkt aussagekräftig. Relativ eindeutig ist, dass Boxen auf Dauer zu Hirnschäden mit neurologischen und psychischen Störungen führen kann. Wissenschaftlich gesichert sei dies bislang nur bei Profi-Boxern, nicht jedoch bei Amateur-Boxern und anderen Sportlern, erklärt Solomon. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es aber nicht nur die häufige Gewalteinwirkung beim Boxen, die einen chronischen Hirnschaden fördert. Die Gefahr solcher Dauerschäden ist laut Solomon vor allem bei jenen Boxern erhöht, die auch ein genetisch erhöhtes Risiko (Apolipoprotein E4 Allele) für eine Alzheimer-Demenz haben. Insgesamt soll das Risiko im modernen Profi-Boxsport aber geringer sein als zu Beginn des 20. Jahrhunderts, da damals ein Boxer im Mittel fast 20 Jahre aktiv war. Heute sind es durchschnittlich nur noch fünf Jahre. Außerdem ist heute die medizinische Versorgung besser.
Klinische CTE-Diagnose ist sehr unsicher
In der Regel treten die Symptome der CTE erst auf, wenn die Sportler nicht mehr aktiv sind. Oft bemerken Angehörige, etwa die Ehefrau, dass ihr Mann sich verändert habe, sich anders verhalte. Zu den möglichen Symptomen gehören auch kognitive Defizite und Gedächtnisstörungen; mit Progression der Erkrankung treten auch Tremor und Sprachprobleme auf. Auch kommt es immer wieder zu massiven Verhaltensstörungen. Allerdings ist die klinische Diagnose einer CTE unsicher, da es zum Beispiel keinen Konsens über die diagnostischen Kriterien gibt. Eine halbwegs sichere Diagnose ist daher erst post mortem durch neuropathologische Untersuchungen möglich, wie sie McKee und ihre Kollegen durchführen. Aber bislang gibt es auch über die neuropathologischen Kriterien für die CTE-Diagnose keinen Konsens.
CTE-Befunde: Atrophie und verklumptes Tau
Bisher haben die Forscher um McKee Autopsie-Ergebnisse von 46 Sportlern (39 Boxern, fünf Football-Spielern, einem Wrestler und einem Fußball-Spieler) veröffentlicht. Das Durchschnittsalter bei autoptisch bestätigten, angeblichen CTE-Fällen habe bei knapp 43 Jahren gelegen, berichtet Dr. Brandon E. Gavett, Mitarbeiter von McKee. Neuropathologische Befunde sind laut Gavett unter anderen eine zerebrale Atrophie, geschrumpfte Corpora mamillaria und Ansammlungen von verklumptem Tau-Protein – wie bei der Alzheimer-Demenz. Bei der CTE fehlen jedoch die ausgedehnten Amyloid-Plaques.
Nur symptomatische Therapie möglich
Die Wissenschaftler hoffen natürlich, die Diagnose so früh wie möglich schon klinisch stellen zu können, etwa mit Biomarkern im Liquor und bildgebenden Verfahren, etwa der MRT-Spektroskopie. Eine kausale Therapie gibt es jedoch wie beim Morbus Alzheimer und anderen neurodegenerativen Erkrankungen nicht. Möglich ist nur eine symptomatische Therapie, etwa der Schlafstörungen mit Trazodon, der posttraumatischen Kopfschmerzen und der Depressionen mit Antidepressiva. Laut Dr. William P. Meehan vom „Children’s Hospital Boston“ kommt bei Konzentrationsstörungen Methylphenidat in Frage, bei Gedächtnisstörungen wurden auch klassische Antidementia wie Rivastigmin und Donepezil untersucht und darüber hinaus natürlich auch nicht-pharmakologische Therapien. Allerdings, so Meehan, müsse immer abgewogen werden, ob nicht eventuell die Risiken der Therapien größer seien als der mögliche Nutzen. Besser als jede Therapie ist ohnehin die Prävention. Leider gebe es keine ausreichenden Belege dafür, dass Helme wirklich vor den Folgen häufiger leichter Schädel-Hirn-Traumen im Sinne einer „Concussion“ schützen, sagt Daniel H. Daneshvar.
Kopfball-Spiel unbedenklich
Es gibt allerdings auch eine gute Nachricht, zumindest für Fußball-Spieler und ihre Fans. Obwohl ein Fußball mit über 100 Stundenkilometer durch die Luft fliegen kann und so genannte Kopf-Ball-Kollisionen relativ häufig sind, macht Fuß- oder genauer Kopfball-Spiel auf Dauer nicht „dumm“, wie immer wieder gerne spekuliert wird. Denn zum einen kommt die Kollision mit dem Ball meist nicht überraschend, der Spieler ist also darauf vorbereitet, zum anderen sind die meist auf die Stirn wirkenden Kräfte vergleichsweise gering, Rotations-Traumata wie bei einem seitlichen, temporalen Aufprall sind eher die Ausnahme. Gefährlichere und häufigere Ursachen einer Schädel-Hirn-Verletzung sind im Fußball-Sport laut Daneshvar direkte Kopf-Kopf-Kollisionen oder auch der Kontakt mit einem Torpfosten. Belege dafür, dass Fußball-Spielen mit einem erhöhten Risiko für neurodegenerative Hirnschäden einhergeht, gibt es nicht.