Wer lange kein Geräusch seiner Umwelt empfangen hat, kann mit einem Cochlea-Implantat wieder hören. Aber nicht jeder überwindet die Anpassung an die fremde Geräuschkulisse. Menschen, die vorher gut Lippenlesen konnten, tun sich dabei viel leichter.
Im Alter von 99 Jahren erwarten sich nicht mehr viele Senioren große Weihnachtsgeschenke. Hedwig Christoph aus Kalifornien jedoch bekam ein besonders wertvolles. Ärzte pflanzten ihr Mitte Dezember letzten Jahres ein Cochlea-Implantat (CI) ein und beschenkten sie mit einem stark verbesserten Gehör und der erneuten Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.
Piepen, Krächzen und Schnarren
Spezialisierte Zentren versorgen in Deutschland jedes Jahr zwischen 1.500 und 2.000 Patienten mit einem oder zwei (für beide Ohren) solcher Hörprothesen. Die entsprechenden Kandidaten haben einen sensorineuralen Gehörverlust, besitzen aber einen Hörnerv, der noch immer funktioniert. Hedwig Christoph steht aber wie allen anderen Betroffenen erst einmal eine harte Zeit des Trainings und der Anpassung des Geräts bevor. Piepen, Krächzen und Schnarren sind die ersten Geräusche, die nach einer langen Stille wieder wahrgenommen werden. „Wie eine sehr schlechte Übertragung aus einem Blechbüchsentelefon“, beschreibt ein CI-Träger die ersten Eindrücke.
Blinde haben ein wesentlich schärferes Gehör als Gesunde. Wer schon früh sein Gehör verloren hat, der sieht nicht nur mit anderen Augen, sondern auch viel intensiver. Etwa 15% der deutschen Sprache erschließen sich dem tauben Menschen mittels Mundbewegungen seines Gesprächspartners. Wer Lippenlesen kann, der tut sich aber auch dann leichter, wenn er mit einem Cochlea-Implantat wieder in die akustische Welt eintaucht. Denn selbst die beste Technik schafft es noch nicht, aus einem Menschen ohne funktionierendem Gehör ein sensibles Wesen zu machen, das auch nachts das leiseste Geräusch wahrnimmt. Das Cochlea-Implantat, so berichtet etwa Pascal Barone aus dem französischen Toulouse, bringt es auf ein Wortverständnis von 60 bis 75 Prozent. Lippenlesen und Hörprothese zusammen erreichen jedoch häufig das vollständige Verstehen seines Gesprächspartners. Sogar dann wenn der neugierige Wissenschaftler im Test unzusammenhängende Worte spricht. McGurk-Effekt: Verwirrung im Gehirn
Dass sich auch Gesunde bei einer Unterhaltung nicht allein auf ihre Ohren verlassen, zeigt der „McGurk-Effekt“. Besonders bei ähnlich klingenden Lauten wie „ga-ga“ und „ba-ba“ vertraut das Gehirn auch auf sein Sehvermögen. Wenn etwa der Mund ein „ga“ formt, das akustisch nach „ba“ klingt, macht unser Kopf daraus ein „da“. Wenn bei Filmen die Tonspur dem Bild hinterherhinkt, sind wir verwirrt. Das Problem kennen auch alle, die für die Synchronisation fremdsprachiger Filmen sorgen. Auch Säuglinge nutzen beim Verstehen- und Sprechenlernen Sinneseindrücke aus verschiedenen Kanälen: Bis zum achten Monat erkennen sie allein an den Lippenbewegungen, ob das Gesicht vor ihnen ihre Muttersprache redet oder einen fremden Dialekt.
Hörrinde verarbeitet Seh-Eindrücke
Wenn das Hörzentrum in den Großhirnrinde eines tauben Menschen nicht mehr mit akustischen Reizen versorgt wird, übernehmen die entsprechenden Nervenknoten auch die Verarbeitung von visuellen Eindrücken wie beim Lippenlesen und der zugehörigen Mimik und Gestik. „Interessant ist aber nun, was passiert, wenn man diesen Patienten ein Cochlea-Implantat verpasst“, erklärt Pascal Barone. „Dann sind die Bereiche der Hörrinde beim Lippenlesen nicht mehr aktiv. Sobald also wieder akustischer Input da ist, wird dieser Teil des Gehirns wieder für seine eigentliche Bestimmung eingesetzt: Die ganz normale Wahrnehmung und Auswertung von akustischen Informationen.“ In seinen Studien verglich er CI-Patienten und Gesunde mit einer akustischen Simulation des Implantats (Vocoder). Dabei profitieren ehemals Taube weit mehr von visuellen Eindrücken wie Gestik und Mimik ihres Gegenübers. Diese crossmodale Plastizität der Hörrinde bestätigen auch Versuche bei Katzen, die aufgrund eines Gendefekts taub zur Welt kommen. Ein Team aus Kanada, den USA und Hannover veröffentlichte im letzten Jahr in „Nature Neuroscience“ Ergebnisse, nach denen diese Tiere schneller als normale Artgenossen auf Bewegungen, aber auch auf Gegenstände am Rand ihres Gesichtsfeldes reagieren. Legt man die Hörzentren durch entsprechende Wirkstoffe vorübergehend lahm, verlieren sie auch die zusätzlich Schärfe ihres Sehsinns. Die Reaktionen gesunder Katzen bleiben dagegen gleich.
Gehörlos von Geburt an: Schnell mit CI versorgen!
Mitautor Andrej Kral von der MH Hannover zieht aus den Versuchen auch einen Schluss für die Versorgung von taub geborenen Kindern: „Eine frühe Therapie mit einem CI ist auch deswegen sinnvoll, weil sich bei angeborener Gehörlosigkeit das Gehirn anders entwickelt als bei Hörenden.“ Kral kann sich dabei auch auf eine Studie stützen, die im April 2010 im amerikanischen Fachmagazin „JAMA“ erschien. Wissenschaftler aus Baltimore untersuchten über drei Jahre hinweg rund 200 Kinder, die in einem Alter von bis zu fünf Jahren ein Cochlea-Implantat bekommen hatten. Besonders sehr früh operierte Empfänger profitierten enorm von der technischen Unterstützung. Die „sensitive Periode“ scheint dabei irgendwo zwischen zwei und vier Jahren zu enden. Dann sinkt die Plastizität der Hörzentrums im Gehirn schlagartig ab, die Gewöhnung an die fremdartigen Laute fällt vielen schwerer.
Hat ein Kind das Recht auf intaktes Gehör?
Von den rund 700.000 Kindern, die jedes Jahr in Deutschland geboren werden, haben rund 2.000 einen Hörschaden. Sehr vielen von Ihnen könnte man mit einem Cochlea-Implantat helfen. Besonders dann, wenn auch die Eltern hörbehindert oder taub sind, gibt es nicht selten großen Widerstand gegen die technische Regeneration des Gehörs. Denn wenn das Kind nicht bereit ist, trotz wiedererlangtem Gehör die Gebärdensprache zu lernen, wird eine Kommunikation in der Familie schwierig. Das ging etwa in den USA soweit, dass sich ein lesbisches Paar einen gehörlosen Samenspender suchte, um ein Kind mit der gleichen Behinderung zu bekommen.
Auch in Deutschland sorgen diese ethischen Fragen für eine heiße Diskussion zwischen Gehörlosen-Organisationen und Medizinern. Schließlich sind Voraussagen über den Erfolg einer Implantation immer noch sehr vage. Die Spanne zwischen vollkommener Sprachbeherrschung und Verstehen und lebenslanger Hörbehinderung trotz einer Implantation ist bei Kindern wie auch Erwachsenen groß. Warum? Darauf haben auch Experten noch keine schlüssigen Antworten.
Eines wird aber immer klarer: Besonders bei Empfängern, die erst im Laufe ihres Lebens die Gehör verloren haben, ist eine optimale Rehabilitation in den Monaten nach dem Einsetzen des CI entscheidend für gutes Hören in den Jahren danach. Wer zusätzlich den geschärften Sehsinn aus der Zeit seiner Taubheit im Gespräch mit anderen nutzt, tut sich dabei leichter.