Der Stein kam ins Rollen, als diverse HIV-Medikamente mit gefälschten Umverpackungen in Apotheken auftauchten. Jetzt hat das EU-Parlament ein dickes Sicherheitspaket auf den Weg gebracht. Ob die Einzelmaßnahmen aber illegale Kanäle schließen können, bezweifeln Experten.
Combivir, Epivir, Trizivir, Norvir oder Viramune: Mehrfach tauchten in Apotheken Plagiate bekannter antiretroviralen Präparate auf. Alle Kapseln oder Tabletten waren echt, nicht aber die Schachteln, die Beipackzettel oder die Blister. Nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft konnte das Leck innerhalb der Vertriebskette schnell gefunden werden. Reimporteure hatten Präparate, die nicht für den europäischen Markt bestimmt waren, erworben – geschickte Fälschungen inklusive passender EU-Zulassungsnummer. Laut Angaben des Bundeskriminalamts gelangten so seit 1996 in rund 40 Fällen derartige Pharmaka in die normale Vertriebskette. Die Packungen enthielten meist Originalprodukte, waren aber für Märkte in Afrika oder Osteuropa bestimmt.
Schreckgespenst Reimportquote
Nach dem ersten Schock war ein generelles Verbot der Wiedereinfuhr schnell vom Tisch, erweist sich die monetäre Verlockung doch als recht groß: „Die Politik hat erkannt, dass sie Reimporte als Einspar- und als Wettbewerbsinstrument benötigt“, betont der Andreas Mohringer, Chef des Reimporteurs EurimPharm. Allerdings diskutieren die Verantwortlichen zumindest, das Öffnen der Blister beim Umverpacken zu verbieten. Und Apotheken könnten das Risiko theoretisch durch Direktbestellungen umgehen. Sie müssen aber dennoch eine im Rahmenvertrag mit den Kassen vorgesehene Reimportquote von derzeit fünf Prozent erfüllen. Das macht schnell Probleme, wenn zahlreiche Patienten mit Dauermedikation beispielsweise im Rahmen der HIV-Therapie regelmäßig zu versorgen sind.
Vom Traum der Alchimisten
WHO-Experten schätzen, dass innerhalb der EU nur jedes 100. Präparat gefälscht ist, ein extrem niedriger Wert im weltweiten Vergleich, und dennoch nicht tolerierbar. Das größte Einfallstor für Plagiate ist aber mit Abstand der illegale Versandhandel. Untersuchungen des Zentrallaboratoriums Deutscher Apotheker ergaben bei 50 bis 60 Prozent der Medikamente dubioser Online-Apotheken aus Nicht-EU-Staaten falsche Wirkstoffkonzentration oder falsche Inhaltsstoffe – Russisch Roulette mit der Pillendose. Für viele Betrüger ist damit der alte Traum der Alchemie, wertlose Stoffe in Gold zu verwandeln, wahr geworden: Mit Investitionen von unter 100 Euro beispielsweise für ein unsauberes Sildenafil-Plagiat lassen sich 10.000 Viagra-Fälschungen herstellen und für zirka 130.000 Euro über das Web verkaufen. Waren anfangs Lifestyle-Arzneimittel wie Viagra oder Cialis betroffen, werden heute zunehmend auch hochpreisige Präparate, etwa Virustatika, spezielle Antibiotika sowie Psychopharmaka, vertrieben.
Rundumschlag für mehr Arzneimittelsicherheit
Jetzt soll eine EU-Richtlinie für Ordnung sorgen. Im Mittelpunkt stehen Maßnahmen, um die legalen Vertriebswege sicherer zu machen. Das Modell: Ein europaweit gültiger Code zieht sich wie ein roter Faden vom Hersteller bis zur Apotheke. Pharmazeuten unterstützen dieses Ansinnen. „Wir müssen den legalen Vertriebsweg sauber bekommen“, betont der Vizepräsident der Landesapothekerkammer Rheinland-Pfalz, Peter Stahl. Allein die Umsetzung bereitet noch einiges Kopfzerbrechen. Der Verband der europäischen Arzneimittelhersteller hat im Rahmen eines Pilotprojekts den zweidimensionalen Matrix-Code auf Herz und Nieren geprüft. Das Verfahren ist bei Onlinetickets für Flug oder Bahn bereits geläufig. Der Arzneimittelhersteller speichert Angaben wie Verfallsdatum oder Chargennummer. Auch eine individuelle Zahl ist Teil des digitalen Stempels. Bei der Abgabe an Patienten scannen Mitarbeiter schwedischer Testapotheken die Packung mit einem Standardgerät ein. Das System überprüft in Echtzeit, ob eine Gebinde mit der entsprechenden Signatur bereits abverkauft worden ist. Falls ja, läuten die Alarmglocken, und es besteht der Verdacht, ein Plagiat vor sich zu haben. Die Apotheke behält die Packung ein, gleichzeitig begeben sich Hersteller bzw. Ermittler auf die digitale Spur der Fälschung – ein europaweites Frühwarnsystem beginnt zu arbeiten.
Massenabfertigung
Der immense Nachteil: Große Stückzahlen lassen sich nur mühsam erfassen. Und Zeit ist bekanntlich Geld, vor allem beim Großhandel oder bei größeren Lieferungen von Apotheken an Heime bzw. Kliniken. Ingenieure der Leibniz Universität Hannover entwickelten speziell dafür auf Basis von RFID (Radio Frequency Identification) ein Echtheitszertifikat. Das System aus einem Datenspeicher und einer Miniantenne hätte den Vorteil, dass ganze Großhandelskisten mit Radiowellen en bloc eingelesen werden könnten. Zudem könnten alle Akteure den Chip beschreiben und so eine lückenlose Nachverfolgung zu ermöglichen, etwa bei Rücksendungen an den Großhandel. Aus der Praxis gibt es bereits jahrelange Erfahrungswerte. Das System hat sich etwa im Bekleidungssektor etabliert, und das deutsche Passwesen greift ebenfalls auf RFID-Technologien zu. Einziger Wermutstropfen: Mit Stückpreisen von 4,5 Cent ist der Chip relativ teuer, Druckkosten eines Matrix-Codes hingegen fallen kaum ins Gewicht.
So oder so liegt die Belastung im Milliardenbereich. Allein die Umrüstung einer Produktionsstraße kostet laut Bundesverband der Arzneimittelhersteller 80.000 bis 100.000 Euro. Viele Unternehmen profitieren dennoch – die Hoffnung, durch Plagiate verursachte Schäden einzudämmen, ist nicht unberechtigt. Über die Finanzierung der zentralen Datenbanken, die einen Abgleich des Echtheitszertifikats erst ermöglichen, besteht indes noch Uneinigkeit.
Was fälschen wir morgen?
Allerdings wollen die Verantwortlichen zurzeit nur Rx-Präparate sicherer machen, OTCs kommen in dem Papier der EU nicht vor. „Es gibt keine Fälschungen apothekenpflichtiger, nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel, und deswegen ist die Einbeziehung in Sicherungsmaßnahmen aus unserer Sicht eine überflüssige Belastung“, argumentiert Hans-Georg Hoffmann, Vorsitzender des Bundesverbands der Arzneimittelhersteller. Auch bei bestimmten Präparaten, die aus Sicht der Parlamentarier kaum kopiert würden, sei das Sicherheitssystem obsolet. Das sieht der Branchenverband Pro Generika anders: „Fälscher interessiert nicht, ob ein Produkt verschreibungspflichtig ist“, hieß es in einer Stellungnahme. Erste Firmen reagierten bereits selbst auf die neue Herausforderung: Bionorica etwa entwickelte in Zusammenarbeit mit Giesecke & Devrient, einem Spezialisten für Sicherheitslösungen, Hologramme für die eigenen OTCs.
Brief und Siegel selbst gemacht
Die EU-Richtlinie geht noch weiter – auch Online-Arzneimittelkäufe sollen sicherer gemacht werden. Angedacht ist ein verbindliches Logo, um die Spreu vom Weizen zu trennen und sichere Internetportale ausweist. Die Mitgliedsstaaten müssten jedoch selbst Sorge tragen, die Echtheit zu überprüfen und Positivlisten verlässlicher Versandapotheken zu veröffentlichen. Am Erfolg des Vorhabens darf gezweifelt werden, wie die Geschichte des bereits 2009 eingeführten DIMDI-Logos zeigt. Auf der Website des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) können Patienten recherchieren, welche Apotheke über die entsprechende Versanderlaubnis verfügt. Dr. Jörg Fuchs von PAINT-Consult und Prof. Dr. Harald Schweim von der Uni Bonn veröffentlichten kürzlich die Ergebnisse einer Studie zum Nutzen entsprechender Maßnahmen. Von den 303 Teilnehmern hatten 57 bereits mindestens einmal Arzneimittel im Web gekauft. Keine Person kannte das DIMDI-Logo, und drei Viertel der Befragten konnten keine Kriterien für sichere Versandapotheken nennen. In einer weiteren Runde erweckte ein frei erfundenes Prädikat ebenfalls das Vertrauen einiger Probanden.
Die Schlussfolgerung: Zertifikate allein bringt eben noch wenig, wenn sie niemand kennt. Und das wäre beim EU-einheitlichen Sicherheitslogo nicht viel anders – kaum ein Patient würde die Echtheit bei professionell gefälschten Internetportalen in Frage stellen. Um wirklich die Arzneimittelsicherheit zu erhöhen, müssen entweder unsichere Vertriebswege komplett unterbunden werden. Oder aber den Verbrauchern ist zu verdeutlichen, dass Rx-Medikamente, zu Schnäppchenpreisen und ohne Rezept außerhalb der EU angeboten, erhebliche Gesundheitsrisiken in sich bergen. Trotz allem bleibt eben die Apotheke vor Ort der sicherste Arzneimittellieferant.