Denkt man an Sucht und Abhängigkeit, kommen einem Begriffe wie Heroin, Spritzen und Jugendliche in den Sinn. Dies ist aber nur eine sehr klischeehafte Seite der Suchtproblematik. In zunehmendem Maße ist die "Generation 50+" von Abhängigkeit betroffen.
Bis zum Jahre 2030 steigt in Deutschland der Anteil der über 60-Jährigen auf bis zu 40 Prozent. Die Problematik wird durch eine millionenfache Vereinsamung verstärkt. Bereits heute lebt jeder zweite Rentner als Single allein in seiner Wohnung. Der aktuelle Suchtbericht gibt an, dass etwa 27 Prozent aller Frauen über 60 Jahren gefährdet sind, eine Abhängigkeit durch Benzodiazepine zu erleiden. Zwei Drittel aller verschriebenen Medikamente mit Suchtpotenzial werden von Frauen eingenommen. Bei vielen Frauen führt die doppelte Belastung in Beruf und Familie zur Erschöpfung. Außerdem fühlen sich Frauen meist in besonderer Weise verantwortlich für das Wohlergehen der Familienmitglieder. Eigene Bedürfnisse werden nicht selten in den Hintergrund gestellt, als Folgeerscheinung kommt es zu Schlafstörungen, Unruhe und Kopfschmerzen. Mit der Einnahme von Arzneimitteln wird versucht, diese Beschwerden zu lindern.
Auch Drogensubstitution mit Methadon und Buprenorphin ist ein Thema. Die Überlebenschancen bei Drogenabhängigkeit sind dank der Substitutionsbehandlung gestiegen. Die Prognose ist, dass drogenabhängige Menschen mit dem Substitutionsmittel ein Alter erreichen, welches weitere Fragen für den Bereich der Geriatrie aufwerfen wird. Spätestens in 15 Jahren wird die Anzahl der über 65–jährigen Substituierten stark gestiegen sein!
Mehr Missbrauch durch mehr Freizeit?
Oft führt ein Wechsel der Lebensumstände wie das Ende des Berufslebens oder das Ausziehen der erwachsenen Kinder aus der elterlichen Wohnung zum vermehrten Genuss von Alkohol und Medikamenten. Die Frage, wie der Betroffene mit der vielen Freizeit sinnvoll umgehen kann, kann er oft nicht beantworten. Die Analyse der Patientinnengruppe der über 50-jährigen Suchtkranken belegt die Notwendigkeit von spezifischen Angeboten für dieses spezielle Klientel. Die Patienten sind sich oft gar nicht bewusst, dass sie ein Suchtproblem haben. Nicht selten wird eine Abhängigkeit dann offensichtlich, wenn das Suchtmittel längere Zeit nicht konsumiert werden kann, beispielsweise in Kur oder Klinik. Wenn der Tremor einer älteren Patientin im Krankenhaus zunimmt, muss nicht Angst dahinter stehen. Das Zittern kann auch Ausdruck eines Entwöhnungssymptoms sein. Viele frei verkäufliche Arzneimittel aus der Gruppe der Stärkungsmittel enthalten große Mengen Ethanol. Der Melissenextrakt mit der Nonne hat mehr Sprit als jeder Doppelkorn: über 80 Prozent! Nicht nur Psychopharmaka sondern auch Appetitzügler, Laxantien, Analgetika, chemische Schlafmittel oder Antitussiva mit Codein können abhängig machen.
Die Sucht ist so individuell wie der Betroffene. Suchtkranke Senioren können in drei Gruppen eingeteilt werden:
Oma's little Helpers
„Seine“ Medikamente sind dem Arzneimittelabhängigen zum Freund, Heilmittel und Lebensmotor geworden. Ohne diesen Motor erscheint ein Leben für ihn nicht mehr möglich oder lebenswert. Oft weiß er gar nicht, warum er sie einnimmt. Unter der Gewohnheit, jeden Tag eine Tablette einzunehmen, verliert der Konsument das (Heil-)Ziel aus dem Auge. Nicht selten äußern gerade ältere Patienten, sie nähmen ihr Kopfschmerzmittel, weil es ihnen dann gut ginge. Die konkrete Frage, ob sie denn unter Kopfschmerzen leiden, wird häufig verneint. Auch in diesem Fall wird die „Tablette“ an sich als Belohung angesehen, als etwas, das zum Leben dazu gehört. Männer und Frauen sind unterschiedlich stark durch eine Medikamentenabhängigkeit betroffen. Während 20,4 Prozent der Frauen mindestens ein Medikament mit Suchtpotenzial zu sich nehmen, sind es bei Männern nur 13,3 Prozent. Gründe dieses Geschlechtsunterschiedes liegen vermutlich in der unterschiedlichen Einstellung zum Gebrauch von Medikamenten. Deutlich mehr Frauen als Männer nehmen Medikamente zur Lebensbewältigung ein. 10,9 Prozent der Frauen wissen nicht, wie sie den Tag ohne Medikamente überstehen sollen. Bei Männern liegt der Anteil bei 7,9 Prozent. Dies hat eine Studie des Instituts für Therapieforschung (IFT) ergeben, das seit 1995 eine Repräsentativerhebung an über 8000 Personen durchführt.
Leeres Nest, volle Dröhnung
Bei Frauen könnte auch das sogenannte "empty-nest-Syndrom", des leeren Nests, in dem die Frauen im Alter von etwa 45 zurückbleiben, dazu beitragen. Hier fühlen sie sich nicht mehr wertgeschätzt, sie haben ihren Aufgabenbereich verloren und bekommen keine Anerkennung mehr. Die Konsumrate steigt mit zunehmendem Alter deutlich an. Sind es bei den 18 - 20-Jährigen noch 12,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, hat sich die Rate bei den 50 - 59-Jährigen bereits verdoppelt. 16 Prozent der „Generation 50+“ (50 - 59-Jährige) fühlen sich ohne Medikamente nach eigenen Angaben als „halber Mensch“.
Benzodiazepine – „Altersverstärker“ auf Rezept
Die Inzidenz von Schlafstörungen nimmt mit steigendem Lebensalter zu. Etwa 20 Prozent der Frauen und 10 Prozent der Männer über 75 Jahren leiden unter Schlafstörungen. Schlafstörungen sind außerdem verknüpft mit Krankheit und früherem Tod. Die Folge der häufigen Schlafstörungen ist der Anstieg der Verschreibung von Hypnotika im Alter. Die Verordnungsrate bei Älteren liegt bei 10 - 15 Prozent. Unter den rezeptpflichtigen Schlafmitteln sind die Benzodiazepine die Spitzenreiter. Sie wirken nicht nur sedierend sondern auch anxiolytisch und verstärken die Wirkung von Schmerzmitteln. Scheinbar die idealen Pharmaka für Geriatriker. Der „typische Alte“ kann nicht schlafen, wird von Ängsten geplagt und hat häufig Schmerzen. Kein Wunder also, dass viele betagte Patienten ihren Arzt drängen, ihnen die „Pillen für mehr Lebensqualität“ zu verschreiben. Doch was ist der Preis für Schlaf und Angstlosigkeit? Benzodiazepine wirken auch muskelrelaxierend. Die Muskulatur der Extremitäten verliert an Tonus und der Patient wird gangunsicher, er fällt häufiger. Die Sturzgefahr unter dem Einfluss von Benzodiazepinen steigt um mehr als 65 Prozent. Außerdem erschlafft auch der Tonus des Blasensphinkters und die Substanzen wirken amnestisch. Häufiges Fallen, Inkontinenz, Vergesslichkeit. Erschreckenderweise deckt sich das Nebenwirkungsspektrum mit dem Zustand vieler älterer Patienten. Man ist an die Parabel vom Huhn und dem Ei erinnert. Was war zuerst da? Insbesondere in einigen Altenheimen wird die Problematik besonders deutlich. Ein ruhiger Patient ist ein guter Patient. Keinesfalls soll an dieser Stelle die Pflegequalität verallgemeinert und insgesamt diffamiert werden, aber auch hier gibt es schwarze Schafe.
Besonders risikoreich ist die Verordnung von Benzodiazepinen mit langer Halbwertzeit. Der Klassiker Diazepam ist erst nach mehr als 70 Stunden zur Hälfte abgebaut. Auch wenn es vielen Älteren so vorkommt: so lang dauert kein Tag. Die Folgen sind eine Kumulation und gehäufte Nebenwirkungen. Nur der großen therapeutischen Breite der Benzodiazepine ist es zu verdanken, dass die Zahl der kausalen Todesfälle gering ist. Wenn Benzodiazepine verordnet werden, dann solche mit kurzer Wirkdauer wie Triazolam oder Temazepam. Benzodiazepinabkömmlinge wie Zolpidem oder Zopiclon scheinen möglicherweise ein günstigeres Risikoprofil aufzuweisen. Zopiclon hat eine Halbwertzeit von drei bis sechs und Zolpidem von nur zwei bis drei Stunden. Das Risiko eines Hangovers und einer Gangunsicherheit ist somit minimiert.
Wege aus der Sucht
Um Benzodiazepine sinnvoll zu verordnen, müssten folgende Kriterien erfüllt sein:
Auch wenn der verschreibende Arzt für die Problematik sensibilisiert ist, kann ein Missbrauch nicht immer verhindert werden. Häufig pilgern die Patienten von einem Arzt zum anderen und entgehen somit der ärztlichen Kontrollfunktion. Außerdem existieren „Benzodiazepinschwerpunktpraxen“, die derartige Medikamente sehr unkritisch verordnen. Für die Entwicklung einer Benzodiazepinabhängigkeit gibt es eine Reihe von Risikofaktoren: Eine vorbestehende Suchterkrankung, hohe soziale Belastungen, chronische Erkrankungen, neue Wohnsituation (Heim), Erwartungshaltung des Patienten, fehlende Arzt-Patienten-Beziehung u.a.
Die Abhängigkeit wird durch die spezielle Bindung des Patienten an sein Benzodiazepin und durch Entzugserscheinungen in Entzugssituationen deutlich. Diese Bindung zeigt die psychische Abhängigkeit an. Sie drückt sich in typischen Verhaltensweisen aus:
Beendet ein Benzodiazepin-Abhängiger die Zufuhr plötzlich, treten psychische und physische Entzugssymptome auf. Die Symptome ähneln denen im Alkoholentzug, ohne ihnen zu gleichen.
Absetzerscheinungen:
Alternativen nicht in Sicht
Es ist gar nicht so einfach, sinnvolle Alternativen für die benzodiazepinhaltigen Schlafmittel zu finden. Phytopharmaka, Barbiturate, Chloralhydrat, H1-Antihistaminika und Neuroleptika kommen grundsätzlich in Betracht. Aus pharmakologischer Sicht schrumpft die kleine Liste unter Betrachtung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses noch weiter zusammen. Baldrian & Co sind meist unterdosiert, enthalten als flüssige Zubereitungen meist Alkohol und wirken allenfalls Schlaf anstoßend, nicht wirklich sedierend oder gar hypnotisch. Barbiturate sind wegen der hohen Toxizität für diese Anwendung obsolet. Chloralhydrat hat zwar gute pharmakokinetische Eigenschaften, wenige Wechselwirkungen und löst keine Sucht aus, ist sonst aber ein Nischenprodukt. Die magenschädigenden Eigenschaften und die Geruchsbelästigung des Patienten nach der Einnahme schränken die Anwendung erheblich ein. Antihistaminika wie Doxylaminsuccinat und Diphenhydramin sind lediglich apothekenpflichtig und weit verbreitet.
Es wird gern vergessen, dass die therapeutische Breite um ein Vielfaches geringer ist als die der Benzodiazepine. Sie haben parasympatholytische Begleiteffekte und sind deshalb kontraindiziert bei tachykarden Herzrhythmusstörungen, Engwinkelglaukom und Prostataadenom. Diese Erkrankungen findet man besonders häufig bei alten Menschen. Bei Überdosierung kann es zum sogenannten Anticholinergen Syndrom mit Halluzinationen, Muskelschäden, massivem Temperaturanstieg und Tachykardien kommen.