Randomisierte kontrollierte Studien gelten als der „Goldstandard“ in der Arzneimittel-Erprobung. Ihre Ergebnisse fließen in Leitlinien - geprüfte Hinweise für den Arzt. Was aber tun, wenn Studienergebnisse schlampig berichtet werden?
Wer Leitlinien zur Behandlung eines bestimmten Krankenbildes herausgeben möchte, steht erst einmal vor einem Berg an Arbeit. Er muss bestehende Krankheitsbeschreibungen sichten und Veröffentlichungen zur Entstehung der Krankheit berücksichtigen. Er muss neue Studien zur Therapie bewerten und mit den Kollegen der Fachgesellschaft abstimmen.
Kein Wunder, dass es selbst für ein fleißiges Team mehrere Jahre dauert, bis S3-Leitlinien erstellt sind, die allerhöchste Qualitätsansprüche für solche Empfehlungen erfüllen. Als sich an der Dresdner Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Michael Bauer und etliche Mitarbeiter daranmachten, einen solchen Katalog für Patienten mit bipolaren Störungen zu entwickeln, ahnten sie wahrscheinlich noch nicht, dass schon die Sichtung der Forschungsergebnisse der letzten Jahre und ihre Bewertung so schwer sein würden.
Randomisiert - aber wie?
Gerade bei der pharmakologischen Therapie von Krankheiten spielen randomisierte kontrollierte Studien eine entscheidende Rolle. Doppelblindstudien mit einer geeigneten Kontrolle sind der „Goldstandard“, um verschiedene Behandlungsstrategien auf den Prüfstand zu stellen. Voraussetzung dafür ist aber, dass eine ausreichende Anzahl an Teilnehmern an einer solchen Studie teilnimmt, um einen Effekt auch mit statistischer Sicherheit zu belegen. Zudem darf weder Arzt noch Patient wissen, ob sich in der Verpackung der Wirkstoff oder die Kontrollsubstanz - häufig ein Placebo - befindet.
Von den 105 Studien im Zeitraum von 2000 bis 2008, die die Wissenschaftler aus Sachsen in Zusammenarbeit mit Daniel Strech von der Medizinischen Hochschule analysierten, erfüllten nur sechs die strengen Qualitätskriterien, die eine zuverlässige Aussage über die Wirkung von Medikamenten bei bipolaren Patienten erlaubten. Etliche Berichte in der Fachliteratur kamen für die Beurteilung aufgrund ihrer Mängel nicht in Frage, viele weitere wurden in ihrer Bedeutung heruntergestuft. „Als wir uns die Daten anschauten,“ so sagt Andrea Pfennig, Koordinatorin des Dresdner Leitlinien-Teams, „fiel uns die Beurteilung schwer, welchen Studien wir tatsächlich vertrauen können“. Und weiter: „Wir waren wirklich erstaunt.“
Die meisten Mängel fanden die Analysten in einer ungenügenden Beschreibung der Randomisierung. Nur in wenigen Fällen - etwa einem Sechstel der Studien - beschrieben die Autoren, nach welchem Muster die Patienten in die Wirkstoff- oder Kontrollgruppe eingeteilt wurden, nur rund 15 Prozent der Publikationen enthielten Angaben darüber, wie die Verantwortlichen die Verblindung gewährleistet hatten. Bereits aus früheren Studien ist bekannt, dass der Effekt des Wirkstoffs zuweilen höher eingestuft wird, wenn der Arzt weiß, ob sein Patient das Medikament oder ein Placebo erhält. Dass er dabei - meist sogar unwissentlich - Ergebnisse verfälscht, ist unbestritten.
Die meisten Studien enthielten zwar Angaben über die Zahl der Teilnehmer, jedoch keine Informationen darüber, welche Anzahl denn notwendig gewesen wäre, um den Wirkstoff-Effekt statistisch eindeutig zu belegen. Für seltene aber schwerwiegende Nebenwirkungen gilt Ähnliches.
Gebrauchsanleitung für die Studiendokumentation
„Consolidated Standards of Reporting Trials", in der prägnanten Kurzform CONSORT, heißt ein „Regelbuch“, das die Voraussetzungen für eine ideale kontrollierte Studie und deren Veröffentlichung in Fachmagazinen beschreibt. Das „British Medical Journal (BMJ)“, das „New England Journal of Medicine“ oder auch der „Lancet“ richten sich bei der Annahme von Manuskripten an diese 25 Anforderungen, die Studienzentren und Herausgeber von Fachzeitschriften gemeinsam entwickelt haben.
„Aufgrund der Publikationen können wir nicht beurteilen ob die Daten gut oder schlecht sind“, so zitiert die Nachrichtenagentur Reuters Andrea Pfennig zu den veröffentlichten Studien bei „Bipolaren“. Ohne diese aussagekräftigen Ergebnisse wird aber die Erstellung von Behandlungsleitlinien zum Lotteriespiel. Es sind auch nicht etwa ganz besonders strenge Anforderungen der Reviewer, die die meisten Studien zur Behandlung bipolarer Patienten schlecht aussehen lässt. Auch Kollegen, die Cochrane-Reviews zu dieser Störung verfasst haben, klingen ähnlich. „(...) however, they did not report data with sufficient clarity to allow their confident extraction“ schreibt etwa Allan Young aus Vancouver in einem Cochrane Review aus dem Jahr 2008 zum Einsatz von Oxcarbazepin. Unklare Beschreibung von Studiendaten und deren Aussagekraft finden sich dort auch bei anderen Wirkstoffen. Ob die entsprechenden Informationen gar nicht dokumentiert sind oder nur in der Veröffentlichung nicht auftauchen, haben Strech und Pfennig nicht untersucht. Aber allein mangelnde Mitteilsamkeit wertet die Studie zur Verwendung in entsprechenden Leitlinien ab.
Vererbtes Suizid-Risiko
Bipolare Störungen zählen nicht zu den seltenen Krankheiten. Immerhin ist etwa jeder Hundertste in der Bevölkerung betroffen, die Häufigkeit einzelner Symptome liegt bei rund 2,5 Prozent. Einem Artikel aus dem Jahr 2011 in den Archives of General Psychiatry zufolge unterscheiden sich Schwellenländer und Industrienationen nicht allzu sehr in der Häufigkeit der Krankheit. In Staaten mit einer dünnen Gesundheitsversorgung ist das Leiden jedoch häufig die Ursache von Suiziden. Auslöser und Hintergrund manisch-depressiver Stimmungschwankungen liegen immer noch im Dunkeln. Eine Veröffentlichung im American Journal of Human Genetics beschrieb vor Kurzem ein Risiko-Gen, das zumindest mitverantwortlich für die Auswirkungen der Störung sein könnte. Zwar steigert die Variante das Risiko für den Ausbruch nur um 17 Prozent. Bei dem entsprechenden Genprodukt handelt es sich aber, so das Team um Michael Cichon von der Universität Bonn, um ein Protein, das im Gehirn vor allem in kortikalen Regionen und im Hippocampus auftaucht, Regionen, die den Gemütszustand beeinflussen. Möglicherweise könnte sich daraus in einigen Jahren ein neuer Behandlungsansatz entwickeln.
Wenn aber aus der Grundlagenforschung auch effektive Medikamente werden sollen, sind aussagekräftige Untersuchungen in der Klinik notwendig. Nur randomisierte kontrollierte Studien, die wirklich unabhängig und ohne ökonomischen Druck verlaufen, garantieren Ergebnisse, auf die sich Ärzte weltweit verlassen können und die in zuverlässige Leitlinien einfließen. Im Bereich „Bipolarer Störungen“ bleibt anscheinend dabei noch einiges aufzuarbeiten und zu verbessern.