Dank diverser US-Serien sind Rechtsmediziner beim Publikum beliebt wie noch nie. In der wissenschaftlichen Realität haben sie aber mit Geld- und Personalmangel sowie unsauberen Methoden zu kämpfen. Die Folgen: Übersehene Morde und Falschdiagnosen.
Der geübte Krimi-Fan weiß sofort Bescheid: Haben die Ermittler erst einmal ein Haar gefunden, ist der Täter so gut wie überführt. Hightech-Analysen und technischer Fortschritt lassen Verbrechern kaum noch eine Chance – zumindest im Fernsehen. In der Realität stecken die Anwälte der Toten jedoch in einer Krise.
Die National Academy of Science in den USA hat in einem kritischen Report schon vor zwei Jahren einige Baustellen in der Rechtsmedizin aufgedeckt. So heißt es dort: Die simple Wahrheit sei, dass die Interpretation der forensischen Beweislage nicht immer auf Studien beruht. Im Fadenkreuz stehen Haar- und Gewebeproben, Bisswunden-Vergleiche – sogar Fingerabdrücke. „Das ist ein ernstes Problem“, so die Verfasser. DNA-Analysen werden hauptsächlich von Maschinen durchgeführt und spucken so auch beim dritten oder vierten Durchgang das gleiche Ergebnis aus. Für Haarvergleiche unter dem Mikroskop muss dagegen der Experten-Blick von Wissenschaftlern reichen.
Fingerabdrücke - idiotensichere Analysemethode?
Eine 100 Prozent objektive Einschätzung können sie jedoch nicht abgegeben, zudem kommen unterschiedliche Wissenschaftler nicht immer zu dem gleichen Schluss. Sogar Fingerabdrücke, die als idiotensichere Analysemethode gelten, sind nicht immer eindeutig. Das musste auch der Anwalt Brandon Mayfield leidvoll am eigenen Leib erfahren. Der Familienvater, Amerikaner und Muslim wurde nach den Madrider Bombenanschlägen vom März 2004 verhaftet, weil Fingerabdrücke auf einer in der Nähe des Anschlagortes in Spanien gefundenen Plastiktüte irrtümlich für seine gehalten wurden. Erst als die Spanier einen Tatverdächtigen vorstellen, dessen Fingerabdrücke noch viel besser passten, ließ die Regierung ihn frei.
Fehler bei der Auswertung können überall passieren, sogar bei DNA-Analysen. Im Frühjahr 2009 suchte die Polizei in Deutschland nach einer gefährlichen Massenmörderin. Sie hatte ihre Spuren an 40 verschiedenen Tatorten hinterlassen. Orte, an denen brutale Verbrechen stattgefunden hatten. Wie sich herausstellte, war die mysteriöse Böse jedoch an keinem dieser Verbrechen beteiligt. Sie verpackte lediglich Wattestäbchen im Auftrag eines Unternehmens für Medizinbedarf. Die Merkmale ihrer Erbsubstanz stammten nicht von Speichelproben während der Fahndung, sondern sie hafteten schon zuvor auf den Wattestäbchen. Damit war die Geschichte über das berüchtigte "Phantom von Heilbronn" beendet.
Obduktion: Eher eine Seltenheit
Weit häufiger als falsche Anschuldigungen sind übersehene Straftaten. Schon vor Jahren zeigte eine Studie des Instituts für Rechtsmedizin Münster: Etwa 1200 Fälle von Mord und Totschlag bleiben in Deutschland jedes Jahr unentdeckt. Denn viele der Toten bekommt die Rechtsmedizin überhaupt nicht zu sehen. Eine Obduktion wird selten angeordnet. Während man in Skandinavien 20 bis 30 Prozent aller Verstorbenen obduziert, sind es in Deutschland weniger als fünf Prozent. Vor allem Kindstötungen werden oft nicht aufgedeckt, wenn die Leiche nicht geöffnet wird.
Wird die Leichenschau durch Haus- und Krankenhausärzten durchgeführt wird, birgt sie weitere Probleme, wie kürzlich erneut eine Studie zeigte. Vor einer Feuerbestattung schreibt das Gesetz eine zweite Leichenschau vor. Im Rahmen dieser Begutachtung überprüften Rechtsmediziner um Professor Thomas Bojanowski am Krematorium Essen die Daten der ersten Leichenschauen von 2365 Verstorbenen. Dafür wurden die Eintragungen auf dem Totenschein auf Vollständigkeit und Plausibilität geprüft und mit den Ergebnissen der Leichenschau vor der Feuerbestattung verglichen. Das Ergebnis war eindeutig: In 20,6 Prozent aller Fälle traten Unklarheiten oder Fehler auf. Bei 4,5 Prozent wurde der Tod festgestellt, ohne, dass es sichere Anzeichen dafür gegeben hatte. In 26 Fällen sind die Ärzte fälschlicherweise von einer natürlichen Todesursache ausgegangen. Diese Akten wurden an die Polizei übergeben. Auch der Münsteraner Rechtsmediziner Bernd Brinkmann schaute für eine Studie einmal genauer nach: Auf den Totenscheinen als natürlicher Tod ausgewiesen, entpuppte sich ein Viertel der nachuntersuchten Fälle als Suizide, Unfälle, Falschdiagnosen oder Tötungsdelikte.
Fortbildungen sind eher selten
Für die Fehler bei der Leichenschau gibt es verschiedene Gründe. Das Hauptproblem für niedergelassene Ärzte sei der Interessenskonflikt in der Rolle als fürsorgender Hausarzt einerseits und neutraler Sachverständiger andererseits, schreibt Markus Rothschild in einem Beitrag für das Fachblatt „Rechtsmedizin“. Vor allem in Altenheimen drohen die Verantwortlichen den Ärzten mit Beendigung des Geschäftsverhältnisses, wenn sie die Polizei ins Haus holen. Zudem wird das Thema Leichenschau nur am Rande des Medizinstudiums behandelt und Fortbildungen sind selten.
Diese Situation verschärft sich zusätzlich dadurch, dass den Universitäten die finanziellen Mittel für die Lehrstühle gekürzt werden. Die Folge: Allein zwischen 1993 und 2010 wurden elf von 32 Lehrstühlen für Rechtsmedizin in Deutschland geschlossen oder sind unbesetzt. Häufig gibt es für den wissenschaftlichen Nachwuchs nur Zeitverträge und wer es bis 30 nicht geschafft hat, eine Festanstellung zu ergattern, für den sieht es schlecht aus. Auch bei der Drittmittelvergabe sind kleine Fächer wie die Rechtsmedizin benachteiligt. Es gibt weniger Zeitschriften und auch weniger Leser. Doch die finanzielle Unterstützung hängt auch von der Rate an hochrangigen Publikationen ab. Ohne hochrangige Publikationen bleibt der Geldsegen aus und die Forschung leidet. Ein Teufelskreis entsteht - oft zu Lasten der Arbeitsqualität.