Nichts mehr gegen das langsame Sterben ihres Kindes ausrichten zu können, ist die schlimmste Erfahrung, die Eltern und Kinderärzte machen können. Wenn zu den Schmerzen noch seelische Qualen kommen, wird die Hilfe der Pädiatrischen Palliativmedizin benötigt.
„Können Sie denn gar nichts mehr für mein Kind tun?“ Vor dieser Frage besorgter Eltern fürchten sich viele Kinderärzte. Sie drückt die ganze Hilflosigkeit aus, wenn die Krankheit den Stempel „unheilbar“ bekommt. Der Satz ist auch der Titel eines Buches. Die Münchener Palliativmediziner Monika Führer, Gian Domenico Borasio und Ayda Duroux haben darin als Herausgeber Grundlagen der Kinderpalliativmedizin festgehalten.
Mit dem Tod ist das Leiden nicht zu Ende
Rund 22.000 Kinder in Deutschland leiden an Tumoren, Stoffwechselstörungen oder chronischen Erkrankungen des Nerven- oder Immunsystems, für die es keine Heilungschancen mehr gibt. Rund vier- bis fünftausend Kinder sterben jedes Jahr, ohne dass ein Unfall oder eine Infektion für die fatalen Folgen gesorgt haben.
Eine der kleinen Patientinnen - Nora - lag vor ihrem Tod im Alter von 13 Jahren mehr als ein halbes Jahr auf der Intensivstation. Für sie waren das Nächte ohne Eltern und Geschwister und mit seelischen Schmerzen zusätzlich zu den Plagen ihrer Tumortherapie. Eine Umfrage in Schweden ergab, dass knapp die Hälfte der Eltern solcher todkranker Kinder die Versorgung als nachlässig empfinden und ebenso viele eine unzureichende Schmerztherapie reklamieren. Die meisten von ihnen leiden noch Jahre über den Tod ihres Kindes hinaus.
Pädiatrische Palliativmedizin und Kinderhospize
Boris Zernikow und Monika Führer sind die einzigen beiden Professoren für Kinderpalliativmedizin in Deutschland. Im westfälischen Datteln konnte Zernikow im Sommer letzten Jahres auch die weltweit erste Palliativstation für Kinder und Jugendliche eröffnen. Mehr als 50 Kinder waren seitdem dort durchschnittlich zwei Wochen zu Gast, nur zwei starben auf der Station. Auch in München soll spätestens im nächsten Jahr ein solches Zentrum in unmittelbarer Nähe des Klinikums Großhadern stehen, wenn die Finanzierung von rund 5,5 Mio. Euro gesichert ist. Bereits 2004 entstand hier (wie ähnlich auch in NRW) ein Konzept für koordinierte multiprofessionelle Palliativ-Betreuung mit dem griffigen Namen „HOMe - Hospiz ohne Mauern“.
Für schwerstkranke und sterbende Kinder wie Nora ist der beste Ort zu Hause in der Familie. Das ist die einhellige Meinung von Palliativmedizinern wie Zernikow und Führer. Zu ihren Teams gehören auch Kinderkrankenschwestern mit Palliativ-Ausbildung, Seelsorger und Sozialarbeiter. Sie sind ständig erreichbar, besonders in Schmerzkrisen, die von Eltern und Kinderarzt allein nicht mehr zu kontrollieren sind. Intensive Versorgung besonders in solchen Notfall-Situationen, das unterscheidet die Kinderpalliativmedizin in Datteln oder München von den bestehenden sieben Kinderhospizen in Deutschland. Hospize bieten Eltern und Geschwistern Entlastung vom täglichen Pflegestress um das schwerkranke Kind. Unterstützung gibt es nicht nur für die kleinen Patienten, sondern auch für die Angehörigen. Jedoch sind die Hospize nicht auf die intensivmedizinische Pflege ausgerichtet. Voraussetzung für die Aufnahme in das Hospiz sind stabile Symptome.
Authentizität und Zeit
Schon davor lässt die Krankheit ihres Kindes jedoch viele Eltern verzweifeln. Wie Boris Zernikow berichtet, kommen sie oft mit unrealistischen Vorstellungen über die Heilungschancen zu ihren Kinderärzten und versuchen, ihr Sorgenkind vor schlechten Nachrichten zu bewahren. Auch für Ärzte und Pfleger ist die Konfrontation mit der Realität und verzweifelten Eltern schwierig. Nicht selten ein Grund, den Kontakt auf das unbedingt notwendige zu beschränken. „Wenn ich mich vor einem Gespräch oder Anblick fürchte, weil ich den Tod oder das Leid selbst nicht ertrage, dann spürt das mein Gegenüber“, sagt Zernikow. Authentizität und Zeit seien die Schlüssel für den Zugang zu seinen Patienten und deren Angehörige. Wichtig, so erläutert auch Monika Führer, sei das Zuhören: „Wo liegt das Leiden der Familien und wer leidet gerade in den Familien.“
Die Symptome von Kindern in ihren letzten Lebensmonaten ähneln meist denen von Erwachsenen: Schmerzen, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Atemnot und vor allem Angst. Angst vor dem Alleingelassen-Werden, vor dem Bruch mit den geliebten Menschen. Pädiatrische Palliativmedizin heißt deswegen auch, sich um diese Ängste zu kümmern.
Besonders in der Palliativphase werden Schmerzen - körperliche und seelische - unerträglich, weil ihr Sinn nicht mehr einleuchtet. Das heißt für den Arzt: Schnelle Behandlung mit ausreichend Schmerzmitteln. Für Kinder besser oral statt invasiv. Die Isolation von Spiel- und Schulgefährten und kein gemeinsamer Urlaub mit den Eltern tragen zum Leid bei. Je nach Alter der Kinder hat für sie auch der Tod verschiedene Bedeutungen: Sie reichen vom Verlust des gewohnten Alltags über die Strafe fürs „Böse-Sein“ bis hin zur Verharmlosung der Vergänglichkeit bei Teenagern.
Innere Kraft der Helfer
Die Betreuung, nicht nur des sterbenden Kindes, sondern auch von Geschwistern und Eltern, geht im besten Fall von der Diagnose bis über den Tod hinaus. Denn allzu oft verliert die Familie nicht nur ein Mitglied. Auch der Kontakt zu Pflegern und Ärzten reißt ab - eine Beziehung, die sich durch den häufigen Kontakt im Lauf der vergangenen Jahre aufgebaut hat und oft sehr intensiv ist. Die Unterstützung der Angehörigen kann pathologische Trauer und psychische Erkrankungen verhindern.
Woher kommt aber die Kraft, von der die Helfer zehren - ständig mit Verzweiflung und Tod konfrontiert? Regelmäßige Supervision, interprofessionelle Fortbildungen oder eine Helferkonferenz nach dem Tod federn die psychische Belastung ab. Vor allen Dingen ist es die eigene Einstellung, allen Betroffenen eine Hilfe sein zu können, besonders dann, wenn die Krankheit für Eltern und auch für den Kinderarzt nicht mehr beherrschbar wird. „Wie soll er wissen, wie er ein Kind mit drei Jahren mit Morphin behandeln soll,“ zitiert die ZEIT Boris Zernikow. In solchen Fällen kann er nicht auf seine Erfahrung zurückgreifen.
Damit auch bei solchen Krisen Kinder nicht auf einer „normalen“ Intensivstation landen, in der sich tickende Apparate am Bett statt fürsorgliche Angehörige um das Kind kümmern, sind Kinderpalliativstationen wie in Datteln und bald auch in München notwendig. Gerade damit Kinder wie Nora die letzte Zeit ihres Lebens möglichst selbstbestimmt gemeinsam mit der Familie zu Hause verbringen können.