Das Alter spielt bei Männern nicht immer eine Rolle: Noch mit 70 Jahren können sie Väter von gesunden Kindern werden. Forscher haben einen Regulationsmechanismus gefunden, der die korrekte Weitergabe des Erbguts an die nächste Generation gewährleistet.
Männliche Keimzellen werden in riesigen Mengen produziert: Pro Sekunde kann ein Mann etwa 1.000 davon bilden. Im Jahr entstehen so rund 32 Milliarden dieser Zellen. Eine aufwändige Qualitätskontrolle stellt sicher, dass sich während der Spermienproduktion so gut wie keine Fehler einschleichen. Nun haben Forscher an der Universitätsmedizin Göttingen und am Göttinger Zentrum für Molekulare Biowissenschaften (GZMB) ein wichtiges Puzzleteil des zugrunde liegenden molekularen Mechanismus' entschlüsselt.
Wie das Team um Professor Matthias Dobbelstein in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the U.S.A. mitteilt, wird in den Vorläuferzellen der männlichen Keimzellen ein Protein namens p63 in besonders großen Mengen hergestellt, welches die Qualität des Erbguts kontrolliert. „Versuche im Reagenzglas weisen daraufhin, dass Zellen schon bei geringen Schäden an der DNA durch die Wirkung von p63 absterben“, erklärt Dobbelstein, der Direktor der Abteilung Molekulare Onkologie an der Universitätsmedizin Göttingen ist. „Fehlerhafte DNA kann so nicht mehr an die nächste Generation weitervererbt werden.“
Virus-DNA aktiviert Gen
Der durch p63 vermittelte Kontrollmechanismus ist dank einer kleinen genetischen Ergänzung in Vorläuferzellen besonders aktiv: Als Dobbelstein und seine Mitarbeiter das Erbgut dieser Zellen analysierten, fanden sie in unmittelbarer Nähe des p63-Gens einen DNA-Abschnitt, der von einem endogenen Retrovirus stammt. Diese dauerhaft im menschlichen Genom eingebauten Viren können keinen vollständigen Replikationszyklus mehr durchlaufen, sondern werden im Erbgut des Menschen von Generation zu Generation weitervererbt. Das LTR-Element, wie der von den Göttinger Forschern identifizierte Virus-DNA-Abschnitt im Fachjargon heißt, sorgt dafür, dass Gene besonders stark in Proteine übersetzt werden. „Vor rund 15 Millionen Jahren wurde dieses LTR-Element bei einem unserer Vorfahren ins Erbgut vor dem p63-Gen eingefügt und hat sich anschließend in der Evolution durchgesetzt“, berichtet Dobbelstein.
Nicht nur Menschen besitzen dieses Element, sondern auch alle großen Menschenaffen. Das, so der Mediziner, sei vielleicht einer der Gründe dafür, warum Menschen und Menschenaffen im Vergleich zu anderen Affenarten über eine besonders lange Reproduktionsphase verfügten, in der sie gesunden Nachwuchs zeugen könnten. Noch ist allerdings nicht bekannt, warum das LTR-Element nur in den Vorläuferzellen der männlichen Keimzellen aktiv ist und dort eine verstärkte Expression von p63 auslöst. „Wahrscheinlich liegen in den testikulären Zellen spezielle DNA-bindende Proteine vor, die sich an das LTR-Element anlagern und so dessen Aktivierung bewirken“, vermutet Dobbelstein.
Protein verhindert Tumoren
Der Kontrollfaktor p63 unterbindet nicht nur die Weitergabe fehlerhafter DNA an die nächste Generation, er scheint auch die Entstehung von Tumoren in den Hoden zu unterdrücken. Als die Forscher Hodenkrebszellen untersuchten, stellten sie fest, dass in den meisten Proben so gut wie kein p63 vorhanden war. Dies, so Dobbelstein, deute darauf hin, dass das Protein in normalem Gewebe die Entstehung von Tumoren verhindere. Er und sein Team konnten zeigen, dass das p63-Gen in den entarteten Hodenzellen eigentlich noch funktionsfähig war, jedoch nicht mehr in das korrespondierende Protein übersetzt wurde. Diese Blockade wird durch Histone verursacht – kugelförmige Proteinkomplexe, um die die gesamte Erbsubstanz gewickelt ist und deren Struktur in Krebszellen verändert vorliegt, so dass das p63-Gen nicht mehr abgelesen werden kann.
Mit Hilfe des bereits zur Behandlung von anderen Krebsarten zugelassen Wirkstoffs SAHA (Handelsname: Zolinza) gelang es den Wissenschaftlern, die Blockade aufzuheben. „Als wir die Tumorzellen mit dem Medikament behandelten, stieg die Expression von p63 um das 2000-fache“, sagt Dobbelstein. Der Mediziner kann sich vorstellen, dass das Medikament auch Patienten mit Hodenkrebs helfen könnte. Kaum Handlungsdruck bei Hodenkrebs
Nach Ansicht von Professor Kurt Engeland, Leiter der Abteilung Molekulare Onkologie an der Medizinischen Fakultät der Unversität Leipzig, ist auch kaum mit einer klinischen Erprobung dieses oder ähnlicher Medikamente zu rechnen: „Hodenkrebs ist eine der am besten therapierbaren Tumorarten, mit Heilungsraten von 80 bis 90 Prozent“, so der Wissenschaftler. „Für die Grundlagenforschung sind die neuen Erkenntnisse sehr wichtig, aber als Ausgangspunkt für eine Therapie besteht hier kein sonderlich großer Handlungsbedarf.“ Außerdem hätten Wirkstoffe wie SAHA einen generellen Effekt auf alle Zellen im Körper. Engeland: „Der Trend in der Onkologie geht schon länger in die Richtung, dass man Wirkstoffe entwickelt, die treffsicher nur veränderte Regulationsprozesse in Krebszellen angreifen und alle anderen Zellen möglichst schonen.“
Dobbelstein ist dennoch auf der Suche nach geeigneten Kooperationspartnern in der Klinik, damit die Wirksamkeit von SAHA in einer klinischen Studie bei Patienten mit Hodenkrebs getestet werden kann. „Bei einem häufigen Tumor, der meist in relativ frühem Lebensalter auftritt, ist auch ein Therapieversagen in 10 bis 20 Prozent der Fälle noch ein massives Problem“, gibt er zu bedenken. „Vielleicht führt SAHA in Kombination mit dem bisherigen Standardtherapeutikum Cisplatin zu besseren Ergebnissen bei Patienten, deren Tumor durch die konventionelle Therapie nicht dauerhaft beseitigt werden konnte.“