Zahlen sind tückisch - vor allem in der Medizin. Denn je nach Interesse können sie Hoffnung verbreiten oder Ängste schüren. Im mathematischen Dschungel absoluter und relativer Risikowahrscheinlichkeiten geht auch so mancher Arzt verloren.
Schon der Britische Premier-Minister Benjamin Disraeli sagte vor mehr als hundert Jahren: „Es gibt drei Arten von Lügen: Lügen, infame Lügen und Statistiken.“ Dass Statistiken zu falschen Erwarten führen können, zeigt nun auch ein neues Cochrane-Review.
Dabei geht es vor allem um drei Darstellungsformen, die sich gut an einem sehr bekannten Beispiel aufzeigen lassen: Dem Nutzen der Brustkrebsvorsorge. Immer wieder wurde öffentlichkeitswirksam damit geworben, dass die Teilnahme an dem Mammografie-Screening das Sterberisiko von Frauen um 25 Prozent senkt. Einen ganz anderen Eindruck vermittelt diese Zahl: Die Teilnahme an dem Programm senkt das Risiko, an Brustkrebs zu sterben, um 0,1 Prozent. Beide Zahlen sind richtig und stammen aus der gleichen Analyse. Denn von 1000 Frauen, die am Screening teilnehmen, sterben drei an Brustkrebs. Ohne die Untersuchung sind es Studien zufolge vier. Drei von vier, das ist eine relative Risikoreduktion von 25 Prozent, und eine absolute Reduktion von 0,1 Prozent. Die relativen Angaben sind um ein Vielfaches größer. Aber lassen sich die Patienten auch davon beeinflussen?
Risiko ist nicht gleich Risiko
Um das zu untersuchen, sichteten Dr. Elie Akl von der Universität Buffalo in New York und ihre Kollegen alle Studien, die sich mit dem Einfluss von Statistiken auf Ärzte und Patienten haben. Bei der Auswertung der Cochrane-Studie zeigte sich, dass wir die absolute Risikoreduktion besser verstehen als die relative Risikoreduktion. Die relativen Angaben sind allerdings deutlich überzeugender. "Menschen, denen Informationen anhand des relativen Risikos vermittelt werden, sind eher bereit, ein Medikament zu nehmen und eine Behandlung zu beginnen“, sagt Dr. Elie Akl
Doch nicht nur Patienten tun sich schwer damit, ihr Risiko mit diesen Zahlen realistisch einzuschätzen. Zu Beginn eines Fortbildungskurses über Risikokommunikation fragte der Direktor des Harding Zentrum für Risikokompetenz, Gerd Gigerenzer, vor einigen Jahren 150 Gynäkologen, was die 25-prozentige Risikoreduktion beim Brustkrebsscreening bedeute und wie viele der 1000 untersuchten Frauen weniger an Brustkrebs sterben. Die Befragten konnten sich in einer TED-Abfrage zwischen den Antworten 1, 25, 100 oder 250 entscheiden. Mehr als ein Drittel der Ärzte hat eine falsche Antwort gewählt. 16 Prozent tippte auf 25 Frauen, 15 waren sogar der Meinung, es sterben so 250 Frauen weniger. Genau diese Ärzte haben jahrelang ihre Patientinnen bei der Frage beraten, ob eine Mammografie für sie sinnvoll ist oder nicht.
Auch die Vorteile von anderen Vorsorgemaßnahmen werden aktiv verzerrt. Im März 2009 kam eine große europäische Studie zu dem Schluss, dass ein PSA-Screening von 1000 Männern die Anzahl derer, die an Prostatakrebs sterben, von 3,7 auf 3 reduziert. Viele Zeitungen titelten anschließend jedoch nicht mit diesen Zahlen, sondern mit der relativen Risikoreduktion von 20 Prozent. Nicht erwähnt wurde häufig auch, dass die Gesamtsterblichkeit, in der auch andere Todesursachen eingeschlossen wurden, nicht sank. Ebenso wenig wurde darüber aufgeklärt, dass durch das Screening 30 von 1000 Männern überdiagnostiziert wurden und mitunter Behandlungen erhielten, die sie nicht brauchten.
ELISA kostete Menschen Leben
Will ein Patient eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen, muss er jedoch alle Fakten kennen. Denn wird die Sicherheit einer Methode falsch kommuniziert, kann das dramatische Folgen haben. Im Jahre 1987 nahmen sich einige Blutspender das Leben, nachdem sie mit dem ELISA-Suchtest HIV-positiv getestet wurden. Die Spezifität und Sensitivität dieser Tests liegt zwar im Bereich von 99,5 Prozent. Doch unter den Millionen Blutspenden befinden sich wenig Menschen mit einer HIV-Infektion. Ohne Risikofaktoren sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung bei einem positiven Testergebnis so teilweise auf 50 Prozent. Zahlreiche Studien kamen anschließend zu dem Schluss, dass selbst viele Ärzte nicht um dieses Dilemma wissen und nicht in der Lage sind, aus den vorliegenden Statistiken des Risiko für ihren Patienten herauszulesen. Ein ähnlicher Fall ereignete sich Mitte der Neunziger Jahre in Großbritannien. In Zeitungen und Magazinen warnten Experten vor der Antibabypille der dritten Generation. Sie erhöhe das Risiko für eine Thromboembolie um 100 Prozent. Viele verunsicherte Frauen beendeten sofort die Einnahmen der Pille. Die Folge der Pillenpanik: schätzungsweise 13.000 zusätzlichen Abtreibungen und 800 zusätzlichen Schwangerschaften bei unter 16-Jährigen. Die Kosten für das nationale Gesundheitssystem betrugen geschätzte 4 bis 6 Millionen britische Pfund. All das hätte vermieden werden können, wenn man das Problem mit realen Zahlen geschildert hätte. Denn bei den Antibabypillen der zweiten Generation erlitt eine von 7000 Frauen eine Thromboembolie. Bei der neuen Pillengeneration waren zwei betroffen. Das hätte die Frauen nicht so verängstigt.
Blind vor Zahlen
Diese Zahlenblindheit kann jedoch nicht nur den Ärzten angelastet werden. Das Lesen und Verstehen von Statistiken sowie die Risikokommunikation werden im Studium der Medizin vollkommen vernachlässigt und auch im Arztberuf kaum geschult.
Hinzu kommen medizinische Fachzeitschriften, deren Studien meist nicht alle wichtigen Zahlen nennen, sondern die Zahlen einsetzen, die ihr Ergebnis unterstreichen. Und so braucht es auch nicht zu verwundern, dass auch Pharmafirmen Statistiken für ihre Zwecke nutzen. In Informationsbroschüren für Ärzte lassen sie den Nutzen eines Medikaments möglichst groß aussehen und das Risiko von Nebenwirkungen verschwindend gering. Es ist eben ein Unterschied, ob in dem Infomaterial steht: Das relative Risiko mit dem Cholesterinsenker XY an einem Herzinfarkt zu sterben, sinkt um 22 Prozent. Oder: Das absolute Risiko sinkt um 0,9 Prozent. Der einzige Ausweg aus dieser Situation ist die gewissenhafte Schulung von Ärzten und Patienten, kritisch mit medizinischen Informationen umzugehen.