Mehr als 16.000 Fälle von Kindesmisshandlung vermerkte die Polizei für das Jahr 2016. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. Eine Gesetzesänderung soll es Ärzten nun ermöglichen, einen Verdacht auf Kindesmisshandlung schneller zu melden.
Wann darf ein Arzt seinen Verdacht auf Misshandlung melden? Zweifel quälen ihn, wenn ihm Eltern ein Kind mit verdächtigen Verletzungsspuren und/oder auffälligem Verhalten vorstellen. Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) soll helfen und die Vernetzung von Ärzten und Jugendämtern verbessern. Die zweite Gesetzesinitiative (Drucksache 18/11936) lockert die Verantwortung des Arztes, wenn er zum Beispiel dem Steuerberater sensible Unterlagen zur Verfügung stellen oder zur Reparatur der Praxis-EDV einem IT-Experten Einblicke in die gespeicherten Daten geben muss.
Kinderschutz gerät in den Fokus des allgemeinen Interesses, wenn über einen besonders schockierenden Fall berichtet wird: Ein Kind, dass vernachlässigt, misshandelt oder am Ende gar getötet wurde. Dann schreien alle: „Warum schauen wir zu? Was muss passieren, damit sich was ändert?“ Die hier vorgestellte Gesetzesinitiative ist ein neuer Versuch, gefährdeten Kindern früher (früh genug?) zu helfen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist jetzt 25 Jahren alt. Schon 2013 mahnte der 14. Kinder- und Jugendbericht an, Ärzte und Hebammen besser mit dem Jugendamt zu vernetzen (Drucksache 17/12200 u.a. S. 413). Auch diese beiden Berufsgruppen seien wichtig, um Kindesmisshandlungen früh zu erkennen. Dieser Forderung wird nun nachgegangen. Was sagen die Zahlen? Gewalt gegen Kinder wird deutschlandweit in keiner einheitlichen Datei erfasst. Quellen mit unterschiedlichem Fokus – und zum Teil gravierend anderen Zahlen – sind zum einen beispielsweise die jährlichen Statistiken der Jugendhilfe und zum anderen die der Polizei. Das statistische Bundesamt veröffentlicht die Ergebnisse der Jugendhilfe über Verfahren zur Gefährdungseinschätzung. Gefährdungseinschätzungen 2015
Quelle: Statistik der Kinder- und Jugendhilfe Teil I, Gefährdungseinschätzungen nach § 8a Absatz 1 SGB VIII. 2015 sah das Jugendamt für fast 100.000 Kinder die Notwendigkeit, Hilfe zu leisten, um eingetretenen Schaden zu begrenzen oder künftigen zu vermeiden. In mehr als der Hälfte aller Fälle war das Wohl der Kinder akut oder latent gefährdet. Akute Kindswohlgefährdung liegt vor, wenn eine erhebliche Schädigung von Körper, Geist oder Seele des Kindes/Jugendlichen bereits eingetreten oder mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist und diese Situation von den Eltern nicht abgewendet wird/werden kann. Die Polizei hingegen erfasst Fälle, die strafrechtlich relevant waren. Die Daten für 2016 sind bereits veröffentlicht, 16.300 Fälle wurden erfasst. Darunter sind 4.237 Opfer von Kindesmisshandlungen und 12.019 Fälle sexuellen Missbrauchs (Infografiken, Polizeiberatung). Hinzu kommen 140 Kinder, die Opfer eines versuchten oder vollendeten Tötungsdelikts wurden. (PKS 2016 – IMK-Bericht).
Diese Zahlen rechtfertigen Anstrengungen des Gesetzgebers zur Begrenzung der Gefahr. Zumal die erfassten Fälle nur die Spitze des Eisberges darstellen. Die meisten bleiben im Dunkeln, selbst viele Kindstötungen: sei es weil die Leiche nie gefunden oder der Tod irrtümlicherweise auf einen plötzlichen Kindstot oder Unfall zurückgeführt wird. Misshandlungs- und Missbrauchstäter stammen aus allen sozialen Schichten, es handelt sich um ein Alltags- und Gesellschaftsproblem. Auch Frauen sind Täter – gerade bei den Kleinsten. Körperlich misshandelt wird vor allem im Nahbereich des jeweiligen Opfers. In 85 % der Fälle war das Kind mit dem Täter verwandt, in weiteren 4 % befreundet. Auch die Täter des sexuellen Missbrauchs stammen in etwa 40 % der Fälle aus der Familie oder dem Freundeskreis des Kindes (Infografiken, Polizeiberatung)
Es besteht Hoffnung, die Dunkelziffer zu verringern, indem Ärzte besser auf ihr Recht zur Anzeige ihres Verdachts vertrauen. Denn schon heute dürfen Ärzte Polizei oder Jugendamt ihren begründeten Verdacht melden – es ist nicht strafbar. So urteilte zum Beispiel das Kammergericht (KG) Berlin im Zusammenhang mit einer deliktischen Schadensersatzklage (KG Berlin; Urteil vom 27.06.2013, Az.: 20 U 19/12, Rn 78 - 81 nach openjur). Die Art des beanspruchten Anspruchs machte es notwendig, auf eine strafrechtlich relevante Handlung hin zu prüfen – das wäre die Verletzung von Privatgeheimnissen (§ 203 Strafgesetzbuch = StGB). Das Gericht entschied: Der Arzt hat zwar hiergegen verstoßen, durfte es aber. Er handelte in rechtfertigendem Notstand (§ 34 StGB). Ein solcher Notstand liegt vor, wenn beispielsweise Gefahr für Leib oder Leben des Täters (= Arzt) oder für einen Dritten (= Kind) besteht. Wenn befürchtet werden muss, dass durch eine bestimmte Situation ein Schaden erstmals eintreten oder sich intensivieren kann, darf der Arzt reden. Ein Arzt, der bei einem Kind Verletzungen feststellt, die typisch für eine Kindesmisshandlung ist, darf das Jugendamt oder die Polizei informieren. Denn wenn der Verdacht stimmen sollte, besteht die Gefahr, dass sich die Misshandlung wiederholt. Die Schadensersatzklage wurde erhoben von Eltern, die 2006 ihr 5 Monate altes Kind mit einem Krampfanfall in die Notaufnahme brachten. Die Ärzte stellten zudem subdurale Blutungen und Netzhautablösungen beidseits fest. Der Verdacht auf eine Kindesmisshandlung kam auf. Weil sie ihn meldeten, nahm man die Eltern vorübergehend fest und das Kind kam in eine Pflegefamilie. Das Strafverfahren gegen die Eltern wurde drei Monate später eingestellt. Tathergang und Täterschaft konnten nicht eindeutig ermittelt werden. Im Nachgang verklagten die Eltern die Ärzte. Eltern haben meist Erklärungen für die Verletzungen der Kinder. In diesem Fall erzählten sie, ihr Kind habe sich den Kopf in der Babyschale gestoßen, als der Vater mit dem Auto eine Kurve gefahren sei – „absurd“, so der Gutachter. Für diese Verletzung hätte der Vater mit einer Beschleunigung um eine Kurve gefahren sein müssen, die weit über der eines Formel-1-Wagens liegt (aaO, Rn 96).
Selbst wenn sich im Nachhinein die Behauptung der Eltern als wahr herausgestellt hätte, wären die Ärzte zur Meldung berechtigt gewesen. Denn der Symptomkomplex subdurale Blutung, Netzhautablösung und akute Enzephalopathie ist typisch für ein Schütteltrauma und ein begründet ernst zu nehmenden Verdacht. Das Gericht betont: Ärzte sind nicht verpflichtet, vor einer Meldung den Fall zu Ende zu ermitteln (aaO, Rn 98 f). Über das Erkennen und Behandeln von Krankheiten hinaus sei es aber deren Aufgabe, künftige Gesundheitsgefährdungen zu vermeiden. Von einer Wiederholungsgefahr sei bei diesem Verletzungsmuster und der Gefährlichkeit der Verletzung auszugehen gewesen (aaO, Rn 107 f). Die Meldung der Verletzung, bzw. des Verdachts auf Kindesmisshandlung ist also im Interesse des Kindes und im Rahmen der Gefahrenabwehr schon nach geltendem Recht richtig.
Ziel der Reform ist, Kindern und Jugendlichen einen wirksameren Schutz zu geben. Das Gesetz hat unterschiedlichste Ansatzpunkte. Hier wird nur auf den die Ärzte betreffenden Teil Bezug genommen. Wie oben geschildert, sind Ärzte schon heute berechtigt, begründete Verdachtsfälle zu melden. Die Gesetzesänderung soll dieses Recht deutlicher machen. Im Gesetzesentwurf (KJSG, S. 26) wird in § 4 Absatz 1 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) Ärzten und anderen Berufsgeheimnisträgern die Befugnis erteilt, das Jugendamt zu informieren und Daten mitzuteilen, wenn sie im Rahmen ihrer Berufsausübung gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen erfahren. Dieses Recht soll bestehen, soweit der Arzt die Information des Amtes und die Datenübermittlung zur Abwendung der Gefährdung für erforderlich hält. Diese Änderung soll die bislang bestehende Rechtsunsicherheit beseitigen. Die jetzt noch geltende Fassung des § 4 KKG ist unklarer (https://www.gesetze-im-internet.de/kkg/BJNR297510011.html). Primär wird das Recht des Arztes auf Beratung durch die Ämter und seine Befugnis auf die Eltern einzuwirken, aufgeführt. Erst nachrangig findet sich die Befugnis auf direkte Information des Amtes durch den Arzt (§ 4 Abs. 3 Satz 2 KKG). Es ist erlaubt, wenn das Einwirken auf die Eltern nicht in Frage kommt oder erfolglos bleibt. Dann hat der Arzt das Recht, das Jugendamt direkt zu informieren und Daten zu übermitteln. Die jetzige Reform ist also keine Neuregelung. Sie dient vor allem der Klarstellung bereits bestehenden Rechts. Das Offenbarungsrecht soll für rechtliche Laien erkennbarer sein. Ärzte und andere Geheimnisträger sollen wissen: Gibt es gewichtige Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung, dann darf man dies dem Jugendamt melden! Der Hinweis auf dieses Recht rückt vom letzten in den ersten Satz der Regelung. Seitens der Bundesärztekammer wird diese Änderung begrüßt. Ergänzend wird gefordert, dass der Arzt unkompliziert und kurzfristig ein fachärztliches Konsil anfordern darf. Dies soll in Fällen greifen, in denen der Befund und damit der Verdacht nicht eindeutig ist (BÄK, Stellungnahme vom 23.03.2017 zum KJSG).
Der deutsche Kinderschutzbund hingegen kritisiert diese Änderung (DKSB, Stellungnahme vom 06.04.2017 zum KJSG). Sie würde am Problem nichts ändern. Ihres Erachtens bedürfe es einer besseren Qualifikation der Ärzte um Misshandlungsfälle zu erkennen. Neu in § 4 KKG des Entwurfs ist, dass Ärzte, die dem Jugendamt Meldung machten, eine Rückmeldung bekommen. Sie sollen künftig erfahren, ob das Amt die Bedenken bestätigt sah und ob es tätig wurde. Dieses Recht auf Rückmeldung hatte die Bundesärztekammer angemahnt. Es ist ein schwieriges Terrain, das Fingerspitzengefühl braucht. Die Schweigepflicht zum Schutz der Kinder einfach zu lockern, wäre bedenklich. Zwar ist jede früh erkannte Gefahr von Kindesmisshandlung zu begrüßen. Doch jede Falschanzeige kann für das Kind und die ganze Familie fatale Folgen haben. Hexenjagd war noch nie gut. Hier die richtige Balance zu finden, ist schwierig. Die Waage kippt sehr leicht in die eine oder andere Richtung. Hilfreich wäre jedenfalls, die Ärzteschaft zu sensibilisieren und sie über ihr gegebenes Recht zur Meldung verdächtiger Verletzungsbilder aufzuklären. Vielleicht kann dieser Artikel ein Anfang sein. Der Gesetzesentwurf liegt jetzt dem Bundesrat als eilig zur Beratung vor, weil das Verfahren noch vor der Sommerpause abgeschlossen sein soll (Drucksache 314/17). Ob er den gewünschten Erfolg hat? Es bleibt abzuwarten ...
Laut dem im ersten Teil des Artikels erwähnten Strafrechts-Tatbestand der Verletzung von Privatgeheimnissen (§ 203 StGB) macht sich strafbar, wer unbefugt ein fremdes Geheimnis offenbart, das ihm in bestimmter beruflicher Eigenschaft anvertraut oder sonst bekannt geworden ist. Aber auch Personen, die der Schweigepflicht unterliegen, wie Ärzte oder Rechtsanwälte, sind auf die Hilfeleistung anderer Personen angewiesen (Bsp: Abschreiben eines Diktats, Telefonannahme, Rechnungstellung, Aktenführung und -vernichtung, Wartung der EDV-Anlage). Sofern dies durch eigenes Personal geleistet wird, handelt es sich nicht um ein Offenbaren im Sinne von § 203 StGB und ist nicht strafbar. Oft werden diese Arbeiten aber von spezialisierten externen Unternehmen oder selbständig tätigen Personen erbracht. Die Beauftragung Dritter birgt das rechtliche Risiko, dass diese von geschützten Geheimnissen Kenntnis erlangen können. Von den Patienten als Berechtigten dieser geschützten Geheimnisse liegt regelmäßig keine ausdrückliche Einwilligung in diese Kenntnisnahme vor. Selbst eine Verschwiegenheitsverpflichtung dieser Dritten bringt keine absolute Rechtssicherheit. Somit ist gesetzgeberischer Handlungsbedarf gegeben, inzwischen liegt der Regierungsentwurf vor (Drucksache 18/11936), die erste Lesung im Bundestag war Ende April. In § 203 StGB soll ein neuer Absatz eingefügt werden. Danach soll es dann kein Offenbaren im Sinne des § 203 StGB sein, wenn zum Beispiel Ärzte Geheimnisse Dritten zugänglich machen, die in der Praxis berufsmäßig tätig sind. Diesen Gehilfen darf der Arzt Geheimnisse zugänglich machen, soweit dies für die Inanspruchnahme der Tätigkeit dieser anderen Person erforderlich ist. In einem weiteren neuen Absatz soll die entstandene Geheimnislücke geschlossen werden, indem zum einen der Arzt natürlich diese Externen zur Verschwiegenheit verpflichten muss und zum anderen der Externe selber sich strafbar macht, wenn er in der Praxis erlangte Kenntnisse von Geheimnissen weiter erzählt. Diese Regelung ist sehr pragmatisch und entlastet Ärzte, Rechtsanwälte und andere Berufsgeheimnisträger. Wurde aber dem Interesse der Patienten genügend Rechnung getragen? Die Bundesärztekammer sagt: „Ja“, indem das Plaudern der Externen unter Strafe gestellt wird (BÄK, Stellungnahme vom 09.05.2017). Es kann trefflich gestritten werden, ob die Patienten dies auch so sehen. Sie haben sich dem Arzt gegenüber offenbart, ihn als vertrauenswürdig angesehen. Wer diese Externen sind und ob sie diesem auch vertrauen schenken würden? Jeder Arzt, der jetzt sagt „Was für ein Quatsch“, sollte bedenken: Auch er könnte irgendwann mal Patient oder Mandant sein – würde man es dann genauso auf die leichte Schulter nehmen? Klar ist – es bedarf einer praxistauglichen Neuregelung – aber unter Berücksichtigung der Interessen aller.