Dort, wo Abwässer nicht (mehr) geklärt werden und sauberes Trinkwasser zur Mangelware wird, drohen Seuchen wie die Cholera. Vibrio cholerae kommt aber nicht nur im Abwasser, sondern auch in warmen Küstengewässern vor. Findet der Keim zurück nach Europa?
Rund 7500 Kilometer sind eine weite Strecke. Nicht nur für Krankheitserreger, sondern auch für die Bedrohung in unserem Kopf. Bangladesh und Haiti sind etwa gleich weit von Deutschland entfernt. Beide Länder sind im Augenblick bekannte Verbreitungsgebiete für Vibrio cholerae, dem Erreger der gefürchteten Durchfallkrankheit. Cholera, das ist hin und wieder ein Thema in den Nachrichten aus Katastrophengebieten und Entwicklungsländern. Aber in Europa oder gar Deutschland? Über diese Zeiten sind wir dank Abwasserklärung und jederzeit frischem - überprüftem - Trinkwasser hinweg, oder?
Europäische Vibrionen lieben warme Sommer
Vor etwa fünfzehn Jahren fanden Mikrobiologen Keime von Vibrio cholerae im Meerwasser bei Sizilien. Ein naher Verwandter, Vibrio vulnificus, ist besonders bei Wassertemperaturen von 20 Grad und darüber regelmäßig in der Ostsee zu Gast. In Dänemark verursachte der Keim 1994, einem besonders warmen Sommer, elf Erkrankungsfälle mit Wundinfektionen, in „normalen“ Jahren sind es drei bis vier. Keime eines nichtpathogenen Vibrio-cholerae-Stamms konnten die Gesundheitsbehörden 2006 in Badegewässern in Thüringen, aber auch aus dem Neusiedler See isolieren. In allen Fällen war das Wasser nicht durch andere Fäkalbakterien verunreinigt.
Das Robert-Koch-Institut warnt vor übertriebener Panik: „Autochthone Fälle (von Cholera) sind in den letzten Jahren nicht gemeldet worden.“ Von 2001 bis 2009 gab es acht Patienten, die sich mit der Krankheit im Ausland infiziert hatten. Dennoch gibt es renommierte Mikrobiologen, die vor einer Rückkehr der Krankheit aufgrund des Klimawandels warnen.
Abseits menschlicher Besiedlung
Wer sich das Auftreten der Krankheit auf dem Globus anschaut, dem fällt auf, dass in Ländern in Äquatornähe das ganze Jahr über Menschen befallen werden. In Ländern der Subtropen schwankt dagegen die Häufigkeit mit den Jahreszeiten - ein Hinweis, dass mangelnde Hygiene nur zum Teil für die Vermehrung der Keime verantwortlich ist, das Klima aber einen entscheidenden Anteil mitträgt. In Peru tauchte die Krankheit 1991 nach hundert Jahren Abwesenheit zum ersten Mal wieder auf und sorgt seitdem in den Sommermonaten für etliche Krankheitsfälle. Auch in Haiti gab es vor dem Erdbeben rund ein Jahrhundert lang keine Cholera.
Rita Colwell war lange Zeit Direktorin der amerikanischen National Science Foundation und lehrt heute an der University in Maryland. Ihre Forschungen zeigen, dass sich das Bakterium auch unabhängig vom Menschen vermehren kann. Sie entdeckte bei ihren Untersuchungen im Golf von Bengalen, aber auch vor ihrer Haustür in der Chesapeake Bay Vibrio cholerae-Keime unabhängig von menschlicher Besiedlung. Dass die Cholera nicht nur durch menschliches Tun die Chance zur Ausbreitung bekommt, galt lange Zeit als sehr umstritten. Immer noch werden die Thesen der Umwelt-Wissenschaftlerin gerade von Medizinerkreisen stark angegriffen. Matthew Waldor, Infektiologe von der Harvard University sagt: „Wenn die Cholera mit der Umwelt reist, (...) dann lässt sie sich nicht verhindern.“ Solche Aussagen kommen nicht gut an bei Entwicklern und Vermarktern von Impfstoffen.
Bedrohung auch für Europa?
Und dennoch gibt es immer mehr Beweise, dass Klimaschwankungen mitentscheiden, wie viele Menschen das Bakterium befällt. Mit der zunehmenden Häufigkeit von „El Niño-Ereignissen“ - zyklisch auftretende warme Meeresströmungen - vor Bangladesh über die letzten Jahrzehnte hinweg steigt auch das Auftreten und Ausbreitung der Infektionskrankheit. So klettert das Risiko einer Infektion mit einem Anstieg der Wassertemperatur um 5°C nach sechs Wochen um das zwei- bis vierfache. Colwell warnt, dass damit auch das Risiko für Nordamerika und Europa steigt: „Wir könnten am Anfang einer Reihe von Epidemien stehen, wie wir sie in fast hundert Jahren nicht gesehen haben.“
Vom Plankton zum Menschen
Und so zweifelt sie auch an der These, dass für die Ausbreitung der Krankheit in Haiti allein eingeschleppte Keime nepalesischer UN-Helfer verantwortlich sind, wie ein Bericht im New England Journal vermutet. „Die Daten, die wir in den letzten 40 Jahren gesammelt haben, zeigen, dass die Bakterien Teil des natürlichen Wasserhaushalts sind“, so zitiert die Wissenschaftsjournalistin die Cholera-Expertin Sonia Shah, „und molekulargenetische Daten weisen immer mehr darauf hin, dass die Ausbrüche ein lokales Phänomen sind.“ Allein die Bestimmung des genetischen Codes gibt nur einen Hinweis auf die Herkunft des Erregers. Denn Vibrionen können Genmaterial unabhängig von ihrer Vermehrung untereinander austauschen. Damit vermischen sich auch verschiedene Serogruppen. Das sorgt dafür, dass extrem virulente Epidemien auch nach langen krankheitsfreien Perioden auftreten.
Wichtigster Wirt von Vibrio cholerae ist neben dem Menschen das Zooplankton, kleine Krebschen, die sich wiederum von pflanzlichem Plankton ernähren. Über die Nahrungskette werden auch Wasservögel zu Krankheitsüberträgern. Wasserpflanzen, Protozoen und sogar Sedimentgestein sind genauso Startpunkte für die weitere Ausbreitung und die Möglichkeit, dann auch den Menschen zu erreichen. Das geschieht besonders dann, wenn nährstoffreiche Abwässer für eine Algenblüte sorgen und so die Vermehrung der Plankton-Krebschen begünstigen.
Wasserfiltration und Impfung
Im „Lancet“ vom 8. April 2011 sagen Jason Andrews und Sanjay Basu von der Bostoner Harvard Medical School aufgrund ihres mathematischen Modells bis Dezember 2011 für Haiti rund 800.000 Fälle und 11.000 Tote voraus, derzeit stehen die Opferzahlen bei rund 250.000 Fällen und knapp 5.000 Toten. Wären allein die wenigen nepalesischen Helfer am Ausbruch der Seuche schuld, so zitiert Science den französischen Epidemiologen Renaud Piarroux, hätten sie „Dutzende von Patienten anstecken und hunderte von Litern an kontaminiertem Stuhl ins Abwasser leiten müssen“.
Wie könnte man die Epidemie nun wieder in den Griff bekommen? Allein 50 Prozent der Bevölkerung in Hochrisiko-Gebieten zu impfen, so schreibt Ira Longini in der neuesten PNAS-Ausgabe, hätte die gesamten Fall- und Todeszahlen um rund die Hälfte reduziert. Die Kosten dafür liegen bei den beiden Cholera-Vakzinen bei 1,5 bzw. 5 Dollar pro Dosis. Aber es geht auch noch einfacher: Rita Colwell zeigte bei Feldversuchen in Bangladesh mit rund 133.000 Menschen, dass einfache Wasserfiltration die Cholerarate um 48 Prozent senkt.
Gut möglich, dass wir Mitteleuropäer diese Hinweise in den nächsten Jahrzehnten nicht brauchen. Dennoch, dass die Cholera ihre Chance allein durch mangelnde Hygiene bekommt, scheint ein Märchen von gestern zu sein.