Schadet die Impfung gegen Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) Kindern womöglich mehr, als dass sie nutzt? Die Empfehlung des Robert Koch-Insituts ist schwammig formuliert. Die Entscheidung für oder gegen eine Impfung von Kindern liegt damit im Ermessen der Ärzte.
Das Robert-Koch-Institut (RKI) hält an seiner Impfempfehlung fest: Sie gilt für Kinder wie Erwachsene, ist allerdings ohnehin schwammig. In den ausgewiesenen FSME-Risikogebieten soll man nämlich das Expositionsrisiko abwägen. Die Entscheidung für oder gegen eine Impfung von Kindern liegt damit im Ermessen der Ärzte. Eines ist unstrittig: Eine durch Zecken übertragene Infektion mit FSME-Viren tritt bei Kindern deutlich seltener auf als bei Erwachsenen und verläuft so gut wie nie schwer. Die Impfung von Kindern halten einige Ärzte deshalb für wenig sinnvoll. Diese Kritik ist auch Wiebke Hillebrand geläufig. Sie gilt als FSME-Expertin des Robert-Koch-Instituts. Kinderärzte forderten schon mehrmals vom RKI ein, die Impfempfehlung für Kinder an anderen FSME-Inzidenzen zu orientieren als an denen für Erwachsene. Hellenbrand sagt selbst: „Kinder erkranken in der Regel weniger schwerwiegend als Erwachsene – insbesondere als ältere Erwachsene – und haben ein deutlich niedrigeres Risiko, bleibende Schäden zu erleiden‟. Sie gibt zu, dass der Nutzen einer Impfung für Kinder daher „tendenziell geringer ist‟. Dennoch hält das RKI an seiner Impfempfehlung fest, die für Erwachsene wie Kinder gilt – aber Spielraum für Interpretationen lässt. Impfen soll sich laut RKI nämlich in den ausgewiesenen Risikogebieten nicht jeder. Vielmehr müsse „nach Abwägung des tatsächlichen Expositionsrisikos entschieden werden‟, sagt Hellenbrand. Es sei „eine Entscheidung, die Arzt und Patient gemeinsam treffen sollten‟. Kritisiert wird, dass die Empfehlung des RKI das Risiko von Nebenwirkungen der Impfung nicht genug einbezieht. So sind schwere FSME-Ausbrüche oder gar bleibende Schäden bei Kindern so dermaßen selten, dass Impfschäden womöglich häufiger auftreten als ernste Krankheitsverläufe. Das zeigt ein Blick in die Zahlen, die das RKI selbst veröffentlicht. Offizielle FSME-Karte des RKI 2017 © Robert-Koch-Institut In den beiden Bundesländern mit der größten FSME-Erkrankungshäufigkeit, Baden-Württemberg und Bayern, liegt die Inzidenz bei Kindern unter fünf Jahren und ist bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 15 und 29 Jahren mit 0,5–0,6 Erkrankungen pro 100.000 Einwohnern im Jahr am niedrigsten. Bei Kindern im Alter von 5–14 Jahren wird sie mit 0,9–1,0 Prozent angegeben. Was noch entscheidender ist: In den allermeisten Fällen verläuft die Erkrankung bei Kindern glimpflich. Nur bei etwa zwei Prozent der Erkrankten werden laut RKI bleibende neurologische Folgeschäden beobachtet. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind in einem stark betroffenen Gebiete eine Erkrankung mit anschließendem neurologischen Folgeschaden erleidet liegt dadurch bei 1 bis 2 zu 10 Millionen. Selbst wenn man davon ausginge, dass die Impfung die Hälfte aller Fälle verhindert (die durchschnittlichen Durchimpfungsraten bei Schulanfängern liegen bei ca. 30 Prozent), läge das Risiko also bei 1 bis 2 zu fünf Millionen. Schwere Verläufe ohne Langzeitfolgen kommen mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 bis 2 zu 800.000 vor, wenn man die Angaben des RKI hochrechnet. Demgegenüber stehen die Risiken der Impfung mit inaktiviertem Virus. Leichtere Nebenwirkungen wie Fieber sind recht häufig – es tritt bei ungefähr zehn Prozent aller Geimpften auf, Schüttelfrost bei ein bis zehn Prozent. Laut Fachinformation von FSME-Immun Junior (Pfizer) wurden nach der Markteinführung zudem folgende schwerwiegendere Nebenwirkungen mit einer Häufigkeit von bis zu 1 von 1.000 berichtet: allergische Reaktionen, neurologische Symptome wie Gesichtslähmungen, vollständige Lähmungen, Nervenentzündungen, entzündliche Erkrankungen des Gehirns, Krampfanfälle mit und ohne Fieber und weitere. Encepur Kinder (Glaxo Smith Kline) listet in der Fachinfo mit einer Wahrscheinlichkeit von seltener als 1 zu 10.000 unter anderem auf: allergische Reaktionen mit krampfartiger Verengung der Atemwege und Kreislaufstörungen, eine vorübergehende Abnahme der Blutplättchen, Sehstörungen. Es wird außerdem darauf verwiesen, dass nach der Impfung Erkrankungen des zentralen oder peripheren Nervensystems, einschließlich aufsteigender Lähmungen bis hin zur Atemlähmung (z.B. Guillian-Barré-Syndrom) aufgetreten sind. Auch in der Beilage von FSME-Immun verweist man auf das Auftreten des Guillian-Barré-Syndroms. FSME-Karte mit Inzidenzen © Robert-Koch-Institut In beiden Fällen fehlt eine Häufigkeitsangabe, bei Encepur ist von Einzelfällen die Rede. Doch das sind gefährlich verlaufende kindliche FSME- Erkrankungen eben auch. Selbst wenn die Impfung Kinder für drei oder später für fünf Jahre schützt, bleibt das Nutzen-Risiko-Verhältnis alles andere als eindeutig. In der Datenbank des Paul-Ehrlich-Instituts belegt die FSME-Impfung bei den Nebenwirkungen den vierten Platz unter den Impfstoffen, mit knapp 4.300 gemeldeten Verdachtsfällen. Eine Cochrane Review von 2009 hat bei drei Impfstoffen (darunter FSME-Immun und Encepur Kinder) keine ernsten oder gefährlichen Nebenwirkungen festgestellt. Hierfür wurden Studien mit 8.184 Teilnehmern ausgewertet, darunter nur 1.598 Kinder. Die Autoren hatten deshalb auch eine genauere Langzeitbeobachtung der Nebenwirkungen empfohlen. Liegen dem RKI andere Zahlen vor, die den Mehrwert einer Impfung von Kindern plausibel machen? Es gebe ihres Wissens nach „keine umfassende Analyse hinsichtlich der Häufigkeit vergleichbarer Schäden nach einer FSME-Impfung und der FSME-Erkrankung‟, räumt Hellenbrand ein. Woher aber sollen die Ärzte dann wissen ob eine Impfung im Einzelfall sinnvoll ist? Hellenbrand rät neben der allgemeinen Wahrscheinlichkeit einer Zeckenexposition (bei Kindern, die zum Beispiel viel im Freien spielen oder einen Waldkindergarten besuchen ist sie erhöht) die regionalen FSME-Inzidenzen „als Entscheidungshilfe in die Nutzen-Risiko-Abwägung miteinzubeziehen‟. Doch genau diese werden vom RKI zurückhaltend kommuniziert. Während 2006 auf der FSME-Karte des epidemiologischen Bulletin noch verschiedenfarbig Risikogebiete, Hochrisikogebiete und Gebiete mit geringerer FSME-Endemizität gekennzeichnet wurden, verschwand diese Aufteilung danach in den offiziellen Karten. Einfarbige Karten vermitteln seitdem fälschlicherweise den Eindruck, dass eine Impfung in allen markierten Gebieten gleich sinnvoll sei. Inzwischen findet man zusätzlich zu den einfarbigen Versionen wieder eine verkleinerte, dreifarbige Darstellung, wenn man gezielt danach sucht und sich bis auf die letzten Seiten des epidemiologischen Bulletin durchklickt.
Verwirrend wird es, wenn man nun noch die Karten eines Impfstoffherstellers hinzuzieht. So veröffentlicht die Firma Pfizer über ihr „Infoportal‟ zecken.de eigene Versionen. Dort sind nicht nur die RKI Gebiete einheitlich in dunkelorange eingefärbt – ohne Unterteilung nach Inzidenzen. Zusätzlich finden sich über ganz Deutschland verteilt gelb gefärbte Regionen. In der Legende findet sich die Aufschlüsselung: Dies seien „Landkreise mit vereinzelt auftretenden FSME-Erkrankungen, die jedoch nicht der Definition für ein FSME-Risikogebiet nach Robert Koch-Institut entsprechen‟. Eltern, die solche Karten sehen, könnten meinen, dass es nahezu überall gut wäre, ihre Kinder zu impfen. FSME Karte auf "Infoportal" von Pfizer © www.zeckeninfo.de 2007 hatte es zusätzlich zu der neuen Darstellung der RKI-Karten auch noch eine Ausweitung der offiziellen Risikogebiete gegeben. Waren diese vorher nach absoluten Fallzahlen berechnet worden, wurden nun die Inzidenzen zu Grunde gelegt, und zwar auch die in umliegenden Kreisregionen. Kritiker bemängeln, dass dadurch 33 neue Kreise erfasst wurden, ohne dass man von einer tatsächlichen Ausbreitung der FSME-übertragenden Zecken ausgehen konnte. Und ohne, dass vorher eine nennenswerte Anzahl von Erkrankungen außerhalb der ursprünglichen Risikogebiete aufgetreten war. Martin Hirte ist als Kinderarzt in München tätig, er hat schon vor einigen Jahren eine ausführliche Analyse der Datenlage zur FSME-Impfung veröffenlicht. Schon damals kam er zu dem Schluss: „Bei Kindern unter zwölf Jahren ist die Impfung überflüssig, da ihr Risiko für eine FSME-Erkrankung mit Folgeschäden nahe bei Null und damit sicher unter dem Impfrisiko liegt.‟ Hirte ist kein grundsätzlicher Gegner der FSME-Impfung. „Ich würde mich vermutlich selbst impfen lassen, wenn ich zum Beispiel als Forstarbeiter viel im Wald in einem Hochrisikogebiet unterwegs wäre.‟ Bei Kindern unter zehn Jahren hingegen rät er Eltern aktiv von einer Impfung ab, zumal seine Praxis sich zwar in Bayern, aber in keinem ausgewiesenen Risikogebiet befindet. Wenn Eltern bei einem Umzug in eines der Risikogebiete auf der Impfung ihres Kindes bestehen, führt er sie durch, „damit sie nicht zu einem anderen Arzt gehen müssen‟.
Das Abwägen zwischen einer möglichen Gefahr durch FSME und den möglichen Gefahren einer Impfung laufe angesichts der großen Seltenheit bei Kindern „im Grunde auf eine intuitive Entscheidung heraus‟, sagt Hirte. In einigen Fällen hätten Eltern nach einer Impfung der Kinder einfach das Gefühl, besser schlafen zu können, sagt Hirte. Wichtig sei es aber, dass ein Arzt dann auch über die entsprechenden Risiken aufkläre. Insgesamt seien die Ängste vor FSME oft übertrieben. Hirte musste schon einmal ein Schullandheim über die Sachlage aufklären, das zur Impfung aufrief – obwohl es nicht einmal in einem der offiziellen Risikogebiete lag. „Da sieht man, wie gut die Kampagnen der Impfstoffhersteller funktioniert haben.‟ Tatsächlich geben auch viele Zeitungen die Impfempfehlung des RKI falsch wieder. Viele schrieben bereits von einer generellen Impfempfehlung in den ausgewiesenen Gebieten, die es nicht gibt, darunter die Pharmazeutische Zeitung, die Ärztezeitung sowie die Süddeutsche Zeitung. Geht die falsche öffentliche Wahrnehmung vielleicht auch auf die Informationspolitik des RKI zurück, das die Impfquoten letztendlich doch gerne erhöhen möchte? Ungeachtet der Datenlage zu Kindern wünscht sich das RKI mehr Impfungen, da sich diese bisher nicht nennenswert auf die Erkrankungszahlen auszuwirken scheinen. Es werden beständig um die 200 bis 300 FSME-Fälle pro Jahr übermittelt, in 2016 waren es 348. Doch was, wenn vielleicht gar nicht zu wenige Menschen geimpft werden, sondern mit Kindern vor allem die Falschen? Man werde in Zukunft verstärkt auf eine „unvollständige Wiedergabe der Impfempfehlung seitens der Journalisten achten‟, sagt RKI-Expertin Hillebrand abschließend.